REFORM DER WELTHANDELSORGANISATION

Zähne für den WTO-Tiger

Die Zukunft der Welthandelsorganisation ist ungewiss - EU, USA und Japan wollen China in die Schranken weisen

Zähne für den WTO-Tiger

Die Welthandelsorganisation WTO ist so etwas wie die letzte Bastion für den regelbasierten Freihandel. Und trotzdem spielt sie zuletzt nur noch eine untergeordnete Rolle: Immer häufiger treffen Staaten bilaterale Abkommen. Gegenüber den Regelverletzungen Chinas erscheint die Organisation machtlos. Wie kann man dem “zahnlosen Tiger”, wie die WTO auch genannt wird, wieder mehr “Zähne” verleihen?Von Julia Wacket, FrankfurtDie Institution am Ufer des Genfer Sees war schon fast in Vergessenheit geraten, bis US-Präsident Donald Trump sie mit seinen angezettelten Handelskonflikten wieder ins Scheinwerferlicht rückte. Eskalieren die Konflikte, etwa der mit China, weiter, wäre das der Todesstoß für die Organisation, die eigentlich geschaffen wurde, um Handelshemmnisse abzubauen und offene Handelskonflikte zu vermeiden.Dabei schrieb die WTO bis in die 2000er Jahre eigentlich eine Erfolgsgeschichte. Sie nahm am 1. Januar 1995 in Genf ihre Arbeit auf und löste als neue Organisation des Welthandels das Allgemeine Zoll-und Handelsabkommen (GATT) von 1947 ab. Seither ist die WTO für drei große Themenblöcke verantwortlich. Sie formuliert die Regeln für den internationalen Handel, ist für die Liberalisierung des Handels mit Waren und Dienstleistungen zuständig und garantiert den Schutz des geistigen Eigentums. Allerdings ist die WTO eine von Mitgliedern gesteuerte Organisation: Ihr Sekretariat kann keine bindenden supranationalen Entscheidungen fällen und hat auch nur ein geringes Budget zu vergeben. Es sind die Mitglieder, die für den Erfolg bzw. den Misserfolg der Organisation verantwortlich sind.Alle zwei Jahre treffen sich die Wirtschaftsminister der 164 Mitgliedsländer auf Ministerkonferenzen, um den Abbau von Handelshemmnissen voranzutreiben. So kam es bisher zu acht großen Verhandlungsrunden. Bis zur Doha-Runde für Handelsliberalisierung im Jahr 2001 waren diese Runden auch sehr erfolgreich und haben zu massiven multilateralen Zollsenkungen geführt. 1947 lagen die Durchschnittszölle der Industriestaaten bei 40 %, heute liegen sie bei weniger als 4 %. Der Welthandel wuchs bis 2007 durchschnittlich mit Raten von 6 %. Heute liegt diese Rate bei der Hälfte. Um an den Wohlfahrtseffekten teilzuhaben, traten immer mehr Länder der WTO bei. Die Mitgliederzahl wuchs von 23 auf 164. Auch das Streitschlichtungsverfahren der WTO, das im Gegenzug zum GATT bindende Entscheide in Handelsstreitigkeiten fällt, trug zu diesem Erfolg bei. Bis heute hat sich das Schiedsgericht über 500 Fällen angenommen. Auch kleinere Schwellenländer können hier große Industriestaaten wegen unfairer Handelspraktiken verklagen. Opfer des eigenen ErfolgsDurch ihre universale Reichweite und frühen Erfolge ist die WTO Opfer ihres eigenes Erfolgs geworden. Da sich die Zölle vieler Industriegüter bereits auf einem niedrigen Niveau befinden und die “tief hängenden Früchte” geerntet wurden, geht es nun um deutlich schwierigere Verhandlungen, wie etwa die Anerkennung von Produktstandards, Regeln für Subventionen, Staatsbetriebe und Investitionen sowie den digitalen Handel. Zudem müssten bereits existierende WTO-Vereinbarungen wie etwa der Vertrag zum geistigen Eigentum (TRIPS) aktualisiert und stärker überwacht werden – Stichwort China. Bei diesen neuen Themen sitzt die WTO allerdings oft in einer Zwickmühle, da viele der Vorschriften im Welthandel aus gesundheits-, umweltpolitischen (oder seit Trump aus sicherheitspolitischen) Gesichtspunkten zwar gerechtfertigt sein können, aber den Prinzipien der WTO-Regeln widersprechen.Diese Prinzipien basieren auf dem Grundsatz der Nichtdiskriminierung: Handelserleichterungen, die einem Mitgliedsland gewährt werden, müssen für sämtliche Mitglieder gelten (Prinzip der Meistbegünstigung). Heimische und ausländische Güter dürfen nicht unterschiedlich behandelt werden (Prinzip der Inländergleichbehandlung). Staaten, die von anderen Vertragspartnern handelspolitische Vergünstigungen gegen das Prinzip der Meistbegünstigung bekommen haben, müssen gleichwertige Gegenleistungen erbringen (Prinzip der Reziprozität). Wenn sich ein Mitglied in seinen WTO-Rechten verletzt fühlt, kann es das Streitbeilegungsverfahren der WTO anrufen und Klage gegen das andere Mitgliedsland einreichen.Insbesondere mit Blick auf die Entwicklungsländer hält sich die WTO jedoch oft nicht an ihre eigenen Regeln. Bei den Streitschlichtungsverfahren gelten für Entwicklungsländer zahlreiche Sonderregeln und Erleichterungen. Peking besser einbinden Bei Ländern wie Angola oder Algerien scheint dies logisch. Allerdings hat auch China in der WTO den Status eines Entwicklungslandes, obwohl es mittlerweile die zweitstärkste Wirtschaftsmacht der Welt ist. Der staatliche Einfluss Pekings auf die Industrie, die damit einhergehenden Subventionen und der Joint-Venture-Zwang für ausländische Unternehmen verstoßen ganz offen gegen das WTO-Prinzip der Inländergleichbehandlung. Die EU, USA und Japan arbeiten momentan mit Hochdruck an einer Lösung, wie man mit diesen Regelverstößen umgeht und China besser in das WTO-System einbetten kann. Die Spannungen zwischen marktorientierten und nichtmarktorientierten Volkswirtschaften werden aber auch in Zukunft eine der Hauptherausforderungen des Welthandelssystems bleiben. Sie erfordern WTO-Regeln, die garantieren, dass der Handel zwischen den beiden “Modellen” auf Fairness, Gegenseitigkeit und beidseitigem Vorteil beruht. Dafür werden beide Seiten Zugeständnisse machen müssen. China könnte etwa die Liberalisierung von Umweltgütern (Solarpanel, Windturbinen) vorantreiben und den Abkommen zum öffentlichen Beschaffungswesen oder zum Handel mit Dienstleistungen beitreten. Europa könnte endlich seine eigenen Subventionen im Agrarsektor abbauen.Weitere Reformvorschläge haben vor allem mit dem Aufbau und der Entscheidungsfindung der Genfer Institution zu tun. Die WTO hebt immer wieder ihre hohe Legitimität und Fairness hervor. Jedes Land kann ein anderes verklagen und Handelsbeschlüsse werden im Konsensverfahren entschieden. Der Preis: Die Effizienz leidet. Seit 1994 wurde kein multilaterales Freihandelsabkommen mehr beschlossen. Bei 164 Mitgliedern mit unterschiedlichen Wirtschaftsmodellen und Entwicklungsstadien überrascht das nicht wirklich. Einer der Reformvorschläge lautet daher, das Einstimmigkeitsprinzip zu lockern und das Sekretariat mit mehr Kapazitäten und stärkeren Durchsetzungsmechanismen auszustatten. Dafür müssten die Mitgliedsländer allerdings mehr Souveränität abgeben – und ob das in Zeiten möglich ist, in denen die Globalisierung auf dem Rückzug ist, bleibt fraglich.