LEITARTIKEL

Zeit der Experimente

Die überraschende Entscheidung der SPD-Mitglieder, die weitgehend unbekannte Bundestagsabgeordnete Saskia Esken und den früheren Finanzminister Nordrhein-Westfalens Norbert Walter-Borjans an die Parteispitze zu wählen, erschüttert nicht nur die SPD....

Zeit der Experimente

Die überraschende Entscheidung der SPD-Mitglieder, die weitgehend unbekannte Bundestagsabgeordnete Saskia Esken und den früheren Finanzminister Nordrhein-Westfalens Norbert Walter-Borjans an die Parteispitze zu wählen, erschüttert nicht nur die SPD. Auch die große Koalition im Bund mit CDU/CSU steht mit dem neuen Führungsduo zur Disposition. Die SPD-Basis hatte offenkundig mehr Lust auf weitere Experimente und weniger daran, ihren Vertretern in Regierungsverantwortung ein Mandat für weitere inhaltliche Arbeit zu geben. Das Duo aus Vizekanzler Olaf Scholz und Klara Geywitz unterlag in der Stichwahl knapp, aber dennoch klar. Zur Halbzeit der Legislaturperiode steht die große Koalition nach dem ungewöhnlich langwierigen Start 2017/18 erneut vor der Frage, wie es weitergeht. Die Richtungsdebatte bei der SPD ist wieder offen. Neu werden die Weichen an diesem Wochenende gestellt, wenn der Parteitag der SPD von Freitag an über den Kurs unter der frisch gewählten Parteiführung diskutiert. Nach anfänglichem harten Gegenkurs klingen die Töne bei Esken und Walter-Borjans schon etwas milder: Sie wollen die Koalition nicht fluchtartig verlassen, aber den Koalitionsvertrag nachverhandeln. Mit der Revisionsklausel im Vertrag zur Mitte der Legislaturperiode halten sie sich für dazu berechtigt, auch wenn sie auf wenig Gegenliebe bei der Union stoßen. Dort ist die Lektion angekommen, dass der Wähler es wenig goutiert, wenn sich Parteien vor allem mit sich selbst beschäftigen. In Verantwortung gewählt, sollen ihre Vertreter auch handeln.Wohin die politische Reise mit Esken und Walter-Borjans geht, scheint dem Führungsduo selbst noch nicht ganz klar zu sein. Dies soll der Parteitag diskutieren. “Wir brauchen wieder eine SPD, die in eigenen Visionen denkt und nicht in Kompromissen”, hatte Walter-Borjans im Parteiblatt “Vorwärts” vor der Wahl gesagt. Wer keine Kompromisse will, ist in der Politik fehl am Platz. Dem Wesen der Demokratie wohnt der Ausgleich inne, denn sonst könnten mehr als 80 Millionen Deutsche kaum friedlich miteinander leben. Wegen Visionen hätte der frühere Bundeskanzler Helmut Schmidt seinen Parteifreund Walter-Borjans zum Arzt geschickt. Esken wittert in der Wirtschaft Gegner. Linke Kampfbegriffe von Autobossen, die in der Klimapolitik diktieren, von Spekulanten in der Wohnungswirtschaft und Finanzinvestoren, die sichere Renten bedrohen, formen ihr Weltbild.Erst in einigen Punkten hat sich das Duo konkreter geäußert. Die schwarze Null im Bundeshaushalt ist demnach überholt und steht dringend benötigten öffentlichen Investitionen in die Infrastruktur im Wege. Die schwarze Null infrage zu stellen, ist in Zeiten nachlassender Konjunktur ökonomisch betrachtet kein Tabu. Selbst die Schuldenbremse würde Platz für einen kleineren zweistelligen Milliardenbetrag an Neuverschuldung des Bundes lassen. Industrieverband BDI und Gewerkschaftsbund DGB haben – in seltenem Schulterschluss – eine auf mehrere Jahre angelegte Offensive für deutlich höhere öffentliche und private Investitionen gefordert. Walter-Borjans argumentiert aber allein mit der Höhe der verfügbaren Mittel, die wegen der Teilabschaffung des Solidaritätszuschlags oder dem Widerstand der Union, eine Vermögensteuer einzuführen, aus seiner Sicht in der Kasse fehlen. Die Hoffnung der Wirtschaft und die Forderung der Union auf eine entlastende Unternehmensteuerreform oder eine komplette Abschaffung des Solidaritätszuschlags, dessen verbleibende Aufkommenshälfte überwiegend Firmen trifft, dürfte mit der neuen SPD-Führung gestorben sein. In der Klimapolitik dringen die designierten Parteivorsitzenden auf das Vierfache des Preises für CO2-Emissionen, den die große Koalition als Einstieg vereinbart hat. Das irritiert. Sie stehen damit zwar im Einklang mit anerkannten Klimasachverständigen und Ökonomen, aber im Gegensatz zur bisherigen SPD-Linie in der Regierung.Mit dem knappen Ausgang der Wahl um die Parteispitze steht die SPD vor demselben Problem wie die CDU: Die Partei ist nun mehr gespalten als geeint. Viele Abgeordnete aus dem Bundestag haben das Duo mit Vizekanzler Scholz unterstützt. Bei der nächsten Bundestagswahl würde nach aktuellen Umfragen rund ein Viertel der SPD-Parlamentarier sein Mandat einbüßen. So kommen vor allem aus der Bundestagsfraktion mahnende Töne der Mäßigung im Umgang mit dem Koalitionspartner Union. Es liegt in der Hand von Esken und Walter-Borjans, die SPD zusammenzuhalten. Die Gefahr ist groß, dass sie sonst ganz zerfällt.——Von Angela WefersZur Halbzeit der Legislatur steht die große Koalition erneut vor der Frage, wie es weitergeht. Die Richtungsdebatte bei der SPD ist wieder offen.——