KOMMENTAR

Zitronenfalter in Erfurt

Die überraschende Wahl von Thomas Kemmerich (FDP) zum Ministerpräsidenten des Landes Thüringen hat Schockwellen ausgelöst, die noch lange und über die Landesgrenzen hinweg nachwirken werden. Zum ersten Mal wurde ein Ministerpräsident mit den Stimmen...

Zitronenfalter in Erfurt

Die überraschende Wahl von Thomas Kemmerich (FDP) zum Ministerpräsidenten des Landes Thüringen hat Schockwellen ausgelöst, die noch lange und über die Landesgrenzen hinweg nachwirken werden. Zum ersten Mal wurde ein Ministerpräsident mit den Stimmen der AfD ins Amt gehoben. Der Vorsitzende des thüringischen Landesverbandes der rechtspopulistischen Partei, Björn Höcke, darf laut Urteil des Verwaltungsgerichts Meiningen ein “Faschist” genannt werden, weil diese Bezeichnung auf “überprüfbaren Tatsachengrundlagen” beruhe. Auch deshalb hatten die Parteizentralen in Berlin und die Landesverbände von CDU und FDP in Thüringen versichert, mit den Populisten am rechten Rand keine gemeinsame Sache zu machen, nachdem die bisherige rot-rot-grüne Regierung in Erfurt bei der Wahl Ende Oktober keine Mehrheit auf sich vereinen konnte.Jetzt hat die FDP zusammen mit der CDU die Brandmauer gegen die AfD entgegen aller Beteuerungen doch eingerissen. Zwar gaben sich sowohl Kemmerich als auch der thüringische CDU-Chef Mike Mohring sehr überrascht vom Ausgang des dritten Wahlgangs, in dem sich der FDP-Mann bei einer Enthaltung mit 45 zu 44 Stimmen gegen den langjährigen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow (Linke) durchsetzte. Doch um es mit dem ehemaligen SPD-Chef und Vizekanzler Sigmar Gabriel zu sagen, der sich in den sozialen Medien zu Wort meldete: “Wer glaubt, dass FDP und CDU nichts davon gewusst haben, dass die AfD ihren FDP-Kandidaten zum Ministerpräsidenten in Thüringen wählt, der glaubt auch, dass Zitronenfalter Zitronen falten.”Der Flügelschlag eines Schmetterlings kann einen Orkan auslösen, behauptet die Chaostheorie. Das gilt auch für die Zitronenfalter in Erfurt. Die SPD-Spitze in Berlin will die Wahl von Kemmerich jedenfalls zum Thema im Koalitionsausschuss machen. CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer, deren Autorität in der Partei am Mittwoch nicht gewachsen sein dürfte, sprach sich ebenso wie CSU-Chef Markus Söder für Neuwahlen in Thüringen aus. Der frisch gekürte Ministerpräsident, der sich gerade mit den Stimmen der AfD ins Amt hatte wählen lassen, beteuerte derweil, dass die Brandmauer gegen die AfD fortbestehe und er ein “Anti-Höcke” sei. Sätze wie diese haben seit gestern kein politisches Gewicht mehr.