Coronakrise

Zwischen Nationalismus und Impfstoff-Diplomatie

Im Kampf um knappe Impfstoffe geraten die Hersteller in den Strudel der Weltpolitik. Entwicklungs- und Schwellenländer sind im Nachteil –und begehren auf. Es droht ein neuer Ost-West-Konflikt.

Zwischen Nationalismus und Impfstoff-Diplomatie

Von Stefan Reccius, Frankfurt

Was ist ein Impfstoff? Die Antwort auf diese vermeintlich leichte Frage fällt sehr unterschiedlich aus, je nachdem, ob der Befragte Mediziner, Jurist, Ökonom oder Politiker ist. Ärzte und Infektiologen werden sinngemäß sagen: Ein Impfstoff ist eine Flüssigkeit, die gegen die Übertragung von Krankheiten schützt. Die übrigen Berufsgruppen dürften stumm nicken – und im nächsten Moment anfangen zu streiten.

Dieses Szenario spielt sich dieser Tage an der Südspitze des Genfer Sees ab. Die 164 Mitglieder der dort an­sässigen Welthandelsorganisation (WTO) berieten zum wiederholten Male über einen Antrag Indiens und Südafrikas, den im entsprechenden Abkommen geregelten Patentschutz von Vakzinen für die Dauer der Pandemie auszusetzen. Nur so sei „der rechtzeitige Zugang zu erschwinglichen medizinischen Produkten einschließlich Impfstoffen“ sicherzustellen, heißt es in dem Antrag. Doch Emissäre der EU, der USA, Kanadas, Großbritanniens, der Schweiz und Japans lehnten den von Dutzenden Entwicklungs- und Schwellenländern vorangetriebenen Vorstoß abermals ab.

Was also sind Impfstoffe: Ein globales öffentliches Gut, wie – ausgerechnet – EU-Entwicklungskommissarin Jutta Urpilainen definiert? Oder doch in erster Linie Umsatztreiber für Pharmafirmen, die über Steuergeld hinaus mit Milliarden aus den eigenen Forschungsbudgets und von Investoren ins Risiko gegangen sind in der Erwartung, für Entwicklungserfolge mit einer stattlichen Rendite belohnt zu werden?

Als wären Interessen und Motive von Industrie und Gesellschaft nicht schon spannungsgeladen genug, geraten die Impfstoffhersteller auch noch in den Strudel der Weltpolitik. Groß angelegte Impfkampagnen können viele Schwellen- und Entwicklungsländer aus eigener Finanz- und Innovationskraft nicht stemmen. Als Geste des guten Willens steuert die Europäische Union deswegen nach eigenen Angaben 850 Mill. Euro zur internationalen Impfallianz Covax bei. Die USA haben umgerechnet mehr als 4 Mrd. Euro zugesagt. Nach jüngstem Stand der Verhandlungen mit Regierungen und Produzenten erwartet Covax im Laufe des Jahres 1,8 Milliarden Impfdosen für 92 von der internationalen Gemeinschaft alimentierte Länder (s. Grafik). Noch fehlen allerdings Finanzierungszusagen in zweistelliger Milliardenhöhe – und selbst wenn alles klappt, würden die in Aussicht gestellten Covax-Kontingente für gerade einmal 27% der Bevölkerung in den Empfängerländern reichen.

Ost-West-Konflikt

Für Bestürzung hat daher in weiten Teilen der Welt der Beschluss der EU-Kommission gesorgt, Impfstoffexporte zu überwachen. Es sei ein alarmierendes Zeichen, dass wohlhabende Staaten und Pharmakonzerne auf geheimniskrämerische Weise zulasten ärmerer Länder gemeinsame Sache machten, mussten sich Vertreter von EU und Co. WTO-Kreisen zufolge in Genf anhören. Für Kritik sorgt zudem eine Klausel im Vertrag mit Curevac, die eine Weitergabe des Vakzins an andere Länder nur mit dem Plazet des Herstellers erlaubt.

„Impfstoff-Nationalismus“, mahnt der Chef der Weltgesundheitsorganisation (WHO) Tedros Ghebreyesus, „dient vielleicht kurzfristigen politischen Zielen. Aber das ist kurzsichtig und geht nach hinten los.“ Zumal China und Russland ihre Chance wittern, mit Hilfe einer neuartigen Form der Impf-Diplomatie ihre Einflusssphären auszubauen. Peking hat den Impfstoff von Sinovac nicht nur Regierungen quer über Afrika angedient, sondern auch umfangreiche Lieferverträge mit führenden Schwellenländern wie der Türkei und Indonesien abgeschlossen. Ungarn hat als erster EU-Staat im Alleingang SputnikV, den nach jüngsten Erkenntnissen offenbar sehr wirksamen Impfstoff russischer Provenienz, zugelassen – zum Missfallen Frankreichs. Somit beschwört der Verteilungskampf um knappe Impfstoffe gar einen neuen Ost-West-Konflikt herauf. Die größten Hoffnungen der Weltgemeinschaft ruhen auf dem Impfstoff von AstraZeneca, weil das Vakzin vergleichsweise preiswert ist und bei weitem nicht so kühl gelagert werden muss wie jene von Biontech/Pfizer und Moderna. Das erleichtert Transport und Lagerung. Von AstraZeneca kommt mit bislang zugesagten 336 Millionen Dosen auch der Löwenanteil an Lieferungen via Covax. Biontech/Pfizer hat 40 Millionen Dosen in Aussicht gestellt – mit Rabatten für Schwellenländer, beteuerte Pfizer-CEO Albert Boura im Zuge der Patentdebatte. Im Februar sollen in 18 Entwicklungs- und Schwellenländern die Impfungen für Ärzte und Klinikpersonal beginnen, teilte Covax mit.

Investoren frohlocken

Derweil stellen Börsianer bereits den Sekt kalt. Im Geschäftsjahr 2021 dürfen etablierte Pharmakonzerne im Durchschnitt mit einem Ertragsplus von 8% rechnen, junge Biotechfirmen wie Biontech und Moderna sogar mit Umsatzsprüngen von 21%, prognostizieren Ökonomen der Allianz. Sie kalkulieren mit fabelhaften Margen von annähernd 30% für Big Pharma und 45% für die Biotechbranche – sofern das von Dutzenden zivilgesellschaftlichen Organisationen wie Oxfam und Transparency International unterstützte Begehren Indien und Südafrikas nicht doch noch Erfolg hat und eine Patentfreigabe Businesspläne obsolet macht.