Alles Pragmatiker
Wenn der Patriarch der Russisch-Orthodoxen Kirche, Kirill I., nach einem ereignisreichen Tag voller Termine in seine schwarze Limousine steigt, klappt er vorher sein Kreuz, das er auf der kirchlichen Kopfbedeckung trägt, ein. Meist macht das sogar einer seiner Leibwächter für ihn. Schließlich soll verhindert werden, dass das hochragende Kreuz den Türrahmen streift und dann womöglich – mit oder ohne Kopfbedeckung – auf den Boden fällt. Die Orthodoxe Kirche oder Kirill selbst hat dafür vorgesorgt. Ein Klappkreuz – verformbar je nach Anlass. Wer hier ein Symbol für Scheinheiligkeit sieht, interpretiert das Ganze vermutlich über. Kirill denkt einfach praktisch – und pragmatisch, wie er nun einmal ist.
So wie die Russisch-Orthodoxe Kirche auch politisch immer pragmatisch – sprich loyal – war. Mehr als das: Der sowjetische Diktator Josef Stalin habe sie ab 1943 zu einer imperialistischen „byzantinischen“ Kirche umgebaut und im Geheimdienst KGB eine Agentenbasis für die Kirche gegründet, wie der inzwischen verstorbene Dissident, exkommunizierte Priester und zwischenzeitliche Dumaabgeordnete Gleb Jakunin mir im Gespräch einmal erklärte: „Die Kirche war praktisch eine Filiale des KGB, die Vorsteher und oberen Geistlichen waren zum Großteil Denunzianten.“
Schon gegenüber Kirills Vorgänger Alexij II. war in den 1990er Jahren der Vorwurf erhoben worden, er habe als KGB-Agent Drosdow gearbeitet. Nun hat die Schweizer Bundespolizei mitgeteilt, dass Kirill während des Kalten Krieges in Genf als Agent des KGB tätig gewesen sei. Im Bundesarchiv in Bern liege ein Dossier über „Monsignor Kirill“, berichtete die „Sonntagszeitung“ in Zürich. Darin werde bestätigt, dass Kirill dem KGB angehörte. Dass er auch in die Ölgeschäfte involviert gewesen sei, die der Kirche vom Staat zugeteilt worden waren, sei nicht belegt.
Zu Reichtum ist Kirill auch so gekommen. Von zahlreichen Residenzen, Luxuslimousinen, Luxusuhren und angeblich sogar einigen Milliarden Dollar Privatvermögen wurde wiederholt berichtet. Unübersehbar ist seine Nähe zu Kreml-Chef Wladimir Putin, den er auch in seinem Angriffskrieg gegen die Ukraine eindeutig unterstützt. Dabei war Kirill viele Jahre über auch derjenige, der ein recht konstruktives und – im Unterschied zu den vielen Hardlinern unter den Würdenträgern der Russisch-Orthodoxen Kirche – relativ offenes Verhältnis zum Vatikan pflegte.
Pragmatisch ist übrigens auch das Verhältnis jener Russinnen zum Westen, die als Schwangere dorthin fliegen, damit die dort geborenen Kinder eine westliche Staatsbürgerschaft haben. Aktuell sorgt Argentinien für Aufregung. Hier ermitteln die Behörden, weil derzeit auffällig viele schwangere Russinnen einreisen – 2022 sollen es 5800 gewesen sein. In Argentinien geborene Kinder erhalten nämlich automatisch die Staatsbürgerschaft des Landes. Nun wird laut Sicherheitskreisen geprüft, ob ein kriminelles Netzwerk hinter dem Geburtstourismus stecke.
Mag sein. Die westlichen Einreisebeschränkungen gegen russische Staatsbürger haben sicher ein neues Geschäftsfeld für die Organisation eines Geburtstourismus befördert. Neu ist dieser aber nicht. Denn auch wenn das heute paradox anmuten mag: Die Mehrheit der Russinnen und Russen haben die Zukunft ihrer Kinder immer in einem westlich organisierten Staat gesehen – und weil ein solcher in Russland selbst nicht absehbar war, haben viele eben eine westliche Staatsbürgerschaft für ihre Kinder angepeilt. Beliebtestes Geburtsland waren dabei immer die USA – jedenfalls für all jene, die bei der Verlosung der so begehrten „Green Card“ nicht gewonnen hatten. In Decken gewickelt, um die fortgeschrittene Schwangerschaft bei der Flughafenkontrolle zu verhüllen, reisten Frauen über alle Jahre dorthin.
„Weißt Du, was der Unterschied zwischen uns beiden ist?“, sagte einmal der Sohn einer Bekannten, der auf diese Weise in den USA zur Welt gekommen war, später zu seinem älteren Bruder, der in Moskau geboren worden war: „Ich bin ein Staatsbürger.“
Die gesamte Familie lebt inzwischen übrigens seit Langem in der EU.