Moskau

Alte sowjetische Fähigkeiten sind wieder gefragt

Russland ist in der Krise – mal wieder. Fein ist da raus, wer noch alte sowjetische Fähigkeiten besitzt. Eine Aufzählung, nicht ganz ohne Ironie.

Alte sowjetische Fähigkeiten sind wieder gefragt

Jetzt, wo Westeuropa wegen der ausbleibenden Gaslieferungen aus Russland angestrengt nachdenkt, wie es den Winter mit minimaler Heizung ohne gröbere Blessuren überdauern soll, lohnt ein Blick darauf, wie es der Verursacher des Problems, also Russland selbst, mit der Heizung hält. Dort, wo es ja aufgrund des Ressourcenreichtums keinen Mangel an Brennstoffen geben sollte, hat man neulich erst mal für die sozialen Objekte wie Schulen oder medizinische Einrichtungen die Rohre der Zentralheizung aufgedreht. An diesem Sonntag folgten die Wohnhäuser. Na endlich, freuten sich die untertänigen Bürger, wie sie sich jedes Jahr darüber freuen. Bevor es nämlich so weit ist, müssen erst einmal einige kalte Tage durchlitten werden. Die Regel dafür ist klar und seltsam zugleich: Die Stadtverwaltung schaltet die Heizung erst ein, wenn die Durchschnittstemperatur im Laufe von fünf Tagen unter acht Grad Celsius bleibt – und wenn sie den Prognosen zufolge weiter absinkt.

Tja, so ist das, wenn man von Wladimir Putin und seiner Retromannschaft abhängt. Da wird geheizt, wenn die Chefetage in ihren warmen Stuben befindet, dass nun doch zu viele krank zu werden drohen. Aber nur weil etwas sowjetisch anmutet, muss es deshalb nicht per se schon schlecht sein, hieß es dieser Tage in einem ausführlichen Artikel mit dem Titel „Vorwärts in die UdSSR“ im Karriereteil des Wirtschaftsmediums RBC. Die Stoßrichtung des Beitrags: Hatten sich die Russen beim Übergang zur Marktwirtschaft gern von den alten Gewohnheiten und Eigenschaften verabschiedet, so seien nun plötzlich Fertigkeiten, die die Sowjetbürger gehabt hatten, von Vorteil, um mit möglichst wenigen Verlusten die Krise zu überleben.

Diese sei mit den Sanktionen eingetreten, wobei das Schlimmste wohl erst bevorstehe. Aber auch jetzt zeige sich bereits, dass mit dem Weggang vieler westlicher Firmen Waren immer unzuverlässiger geliefert würden. Die russische Elektronik sei rückständig. Ärzte würden hoffen, dass alternative Lieferketten für westliche Präparate bald funktionieren. Und der Produktionsstopp westlicher Automarken sei nur deshalb nicht schlimm, weil die Reallöhne ohnehin sinken. Unter solchen Umständen sei es also gut, dass sowjetisches Know-how immer noch da sei, weil die Russen ja von einer Krise in die nächste geschlittert seien.

Worin dieses Know-how besteht? Reparieren statt neu kaufen. Sparen, um sich vielleicht irgendwann etwas leisten zu können, statt wie bisher jegliches Geld im Konsumrausch beim Fenster rauszuwerfen. Mit dem Arbeitsplatz zufrieden zu sein, statt sich einen immer besseren zu suchen. Bescheideneres Auftreten, statt während des Online-Einstellungsgesprächs am Balkon Wasserpfeife zu rauchen, wie das so mancher in letzter Zeit schon getan habe. Liebe zur Arbeit höher schätzen als das Gehalt. Wieder stärker zwischen dem Eigenen und dem Fremden zu unterscheiden, damit auch klarer werde, wem man vertrauen kann. Mehr Rücksicht auf die Hierarchie und die offizielle Etikette, wie das eben in Staatsbetrieben, die an Bedeutung zunehmen, so ist.

Und weiter: Dinge nicht unbedingt in ihrer Hauptfunktion gebrauchen, also etwa Bier zum Haarewaschen und Tee zum Stofffärben verwenden. Mangelwaren organisieren oder durch Ähnliches ersetzen zu können. In jedem Bereich irgendeinen Bekannten als vertrauenswürdigen Spezialisten zu haben. Generell die Konzentration von langfristigen Planungshorizonten auf die aktuelle Realität umschalten. Und so, wie man sich dem Fitnesscenter, der Autowaschanlage und der Pflege von Haustieren wieder mehr widmen soll, soll man auch das wieder pflegen, worin sich die Sowjetbürger immer als Nummer eins weltweit sahen: im Lesen von Büchern. Und zwar auch deshalb, um sich von der ermüdenden Fülle oberflächlicher Informationen zu befreien, tiefer zu blicken und fußend auf dem Vergleich verschiedener Informationsquellen ein kritisches Denken zu entwickeln. Ein solches nämlich brauche man in nächster Zeit ganz sicher.

So weit der Fähigkeitenkatalog. Wer in ihm Ironie wittert, wird nicht ganz falsch liegen. Wer in ihm einen wahren Kern und eine Notwendigkeit erkennt, wohl auch nicht.                                                        (Börsen-Zeitung,

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