Auf dem Wahnsinnstrip der Normalität
Für Ankömmlinge am Flughafen Schanghai Pudong ist es schon ein wenig gespenstisch, was da seit Sonntag so los ist. Da landet der Flieger, man spaziert ins Terminal, geht zum Einreiseschalter, zeigt sein Visum, kriegt ein Stempelchen in den Pass, wackelt Richtung Gepäckkarussell, schnappt sich seine Koffer, passiert den Zoll, es öffnet sich eine Glastür – und paff! Die Erkenntnis präpandemischer Normalität trifft einen wie ein Keulenschlag. Man ist in die totale Bewegungsfreiheit entlassen und kann selbst entscheiden, mit welchem Verkehrsmittel man ins Herz der brodelnden Weltstadt vordringen möchte.
Es ist die Begegnung der dritten Art mit einem Zustand, den man seit drei Jahren nicht mehr kennt. In China scheint alles wieder so zu sein wie im Rest der Welt, sogar der Flughafenbetrieb. Seit Sonntag muss sich niemand mehr in die Niederungen einer aufwendigen Corona-Protokoll-Tortur begeben. Kein Empfangskomitee aus vollvermummten Gestalten im astronautenähnlichen Schutzanzügen, keine stundenlangen Kontrollprozeduren und Testabstrich-Prüfungen. Keine Zwangsquarantäne in einem sündhaft teuren, fensterlosen „Hotelzimmer“ mit durch die Zellentür gereichten Mahlzeiten von der Sorte, für die sich selbst ein Billig-Caterer schämen würde. Keine wochenlangen Folgerestriktionen und Unannehmlichkeiten, die man als eingereister theoretischer Infektionsbringer während des dreijährigen „Null-Covid-Regimes“ zu erleiden hatte.
Auch für Inlandsreisende stellen sich dieser Tage Glücksgefühle bei der Frequentierung von Bahnhöfen und Flughafen ein. Hier wurden die Restriktionen zwar schon im Dezember abgeschafft, aber die mit dem abrupten und unvorbereiteten Ausstieg aus Covid-Zero verbundene gigantische Infektionswelle hat Chinas öffentliches Leben so weit lahmgelegt, dass nur die wenigsten auf Reise- und Ausflugsgedanken kamen. Nun aber, da die Genesenen der ersten großen Omikron-Flut wieder auf den Beinen sind, hat man am Wochenende die größte Reisewelle seit Januar 2020, also vor Bekanntwerden des Corona-Ausbruchs in Wuhan, gesehen.
Auf sozialen Medien wird man mit einer Lawine schwärmender Botschaften und Reiseberichte überschüttet, die alle denselben Tenor haben, nämlich: „Zwickt’s mich“ – kaum zu glauben, dass alles so unvorstellbar einfach sein kann. Man bucht ein Ticket, fährt irgendwohin, steigt aus, tut, was man will. Keine Gesundheitschecks, keine neuen Registrierungsverfahren, Corona-Apps und Gesundheits-Codes, die separat zum nationalen Erfassungssystem auf Provinzebene herrschten, keine von Hotels verordneten individuellen Quarantänemaßnahmen.
Und überall der Umgang mit nicht vermummtem Personal, also Menschen, deren Gesichter, Gesten und Minen klar zu erkennen sind. Das ist für viele doch noch sehr ungewohnt. In etwa so, wie wenn man auf den Mond fliegt und beim Verlassen der Raumsonde von einem Typen in Hawaiihemd und Badelatschen empfangen wird.
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Herzerfrischend auch die Leichtigkeit des Besuches einer Shopping-Mall, einer Ausstellung oder gar eines Themenparks. So etwas geht tatsächlich auch ohne aufwendige Einlasskontrollen, Fiebermessungen und Personendaten-Erfassung. Selbst die Gefahr, dass plötzlich eine Sirene erklingt, die Ausgänge schließen und alle wegen eines Corona-Alarms für ein paar Stunden festgehalten oder gar in eine Zwangsquarantäne überwiesen werden, wirkt wie ein schlechter Film von gestern.
Besonders verdattert über ungewohnte Freiheitsgrade ist die akademische Jugend. In den vergangenen drei Jahren glich ein Studium nämlich der Stationierung auf einer Militärbasis oder Ölbohrinsel. Wer einmal drin ist, der kommt nicht so schnell wieder raus. Provinzler, die sich mit guten Noten einen Studienplatz in Schanghai ergattern konnten, erwartet nun ein ganz neues Lebensgefühl. Sie dürfen völlig legal, ohne Sondererlaubnis und nach eigenem Gusto einfach so vom Uni-Campus schlendern und auf Tuchfühlung mit einer Wahnsinnsstadt gehen. (Börsen-Zeitung,