Moskau

Aus dem Leben eines Oligarchen

Russlands Oligarchen sind wie alle gezwungen, ihre Haltung zum Ukraine-Krieg nach außen zu tragen oder zu verbergen – bemerkenswert ist daher ein Interview mit Oleg Tinkow: Er findet deutliche Worte.

Aus dem Leben eines Oligarchen

Das Verhältnis der Russen zu ihren Oligarchen, wie die Milliardäre unabhängig von ihrer politischen Macht oder Ohnmacht genannt werden, ist ziemlich ambivalent. Als die berühmten Reichsten-Rankings des „Forbes“-Magazins vor knapp 20 Jahren aufkamen, war es nicht so, dass das Volk diejenigen, die sich zum Teil auf seine Kosten bereicherten, nur verteufelte. Nicht wenige in der Bevölkerung waren auch stolz darauf, dass nun auch Russland Milliardäre hervorgebracht hat, die sich in der Welt sehen lassen können und die das Land auch wirtschaftlich auf der globalen Bühne mitspielen ließen. Es mutet paradox an, aber tatsächlich erzeugten die Oligarchen im Volk teilweise jene Hochachtung, die in Russland generell jedem politischen Herrscher entgegenschlägt.

Bei den Staatslenkern steigert sich die Hochachtung freilich in einen quasireligiösen Kult um einen Sakrosankten. Vor einigen Monaten erzählte der flüchtige Multimilliardär Sergej Pugatschow, der eigenen Worten zufolge Ende der 1990er Jahre Wladimir Putin als Jelzins Nachfolger vorgeschlagen hat, in einem Interview, wie Putin ihm später einmal die Begegnung mit Tausenden Menschen auf einer Veranstaltung geschildert habe: Die Menschenmassen, habe Putin verblüfft erzählt, würden ihn einfach wie einen Zaren anhimmeln, weil sie wohl einen Zaren wollen.

Doch zurück zu den Oligarchen: Was sie betrifft, so fallen sie seit Beginn des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine gerade wie das Volk selbst zunehmend auf den Boden aller möglichen und unmöglichen Realitäten zurück. So gut wie alle verlieren. Und alle ringen krampfhaft darum, eine Position zum Krieg zu entwickeln – und diese aus unterschiedlichen Motiven und je nach Situation entweder laut zu äußern oder eben auch tunlichst zu verhüllen. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang ein knapp zweistündiges Interview, das Oleg Tinkow dieser Tage einem russischen Journalisten gab. Leider fand es – weil auf Russisch geführt – kein internationales Auditorium. Zur Erinnerung: Der 54-jährige Tinkow ist jener smarte russische Unternehmer, der sein Geld nicht mit Rohstoffen gemacht hat, sondern unter anderem mit dem Aufbau der landesweit fortschrittlichsten Bank oder vielmehr eines systemrelevanten Fintechs mit 25000 Mitarbeitern und 19 Millionen Kunden. Seine Anteile musste er neulich zum Spottpreis verkaufen, weil er sich so stark wie niemand gegen den Krieg geäußert hat. Dieser sei „sinnlos“, hatte er auf Instagram geschrieben: „Die Generäle, aus ihrem Rausch aufgewacht, haben erkannt, dass sie eine Scheißarmee haben“. Aber die Armee könne nicht gut sein, wenn das ganze Land im Dreck stecke, „in Günstlingswirtschaft, Speichelleckerei und Unterwürfigkeit“. Selbst lebt Tinkow seit einigen Jahren im Ausland, wo er gegen seine Leukämieerkrankung kämpft.

Im zweistündigen Interview, das vor Flüchen, Zorn, aber auch menschlichem Mitgefühl strotzt, erzählt er unter anderem davon, wie er mit seiner 85-jährigen Mutter, die in Sibirien lebt, zu keiner Gesprächsbasis, geschweige denn zu einem gegenseitigen Verständnis mehr komme, weil sie gänzlich von der Kriegspropaganda indoktriniert sei – ein berührendes Dokument, wie sehr der Krieg Gräben innerhalb von Familien und vor allem auch zwischen Generationen aufgerissen hat. Sein Vater, ein Schachtarbeiter, habe in den sowjetischen 1970er Jahren, wenn er von der Arbeit nach Hause gekommen sei, immer den TV-Stecker gezogen, damit man diesen propagandistischen „Dreck“ nicht anhöre, so Tinkow.

Was er sonst noch erzählte? Zwei Bodyguards habe er inzwischen engagiert, weil er von seinen Kontakten in Russland den Hinweis erhalten habe, dass der Kreml ziemlich ungehalten sei – und zwar gerade auch deshalb, weil man fürchte, dass er mit seinen Ansichten und seinem Status für die junge russische IT-Szene zum Idol werde. Und: Von den 20 reichsten Russen habe er mit zwölf telefoniert – alle würden seine Einschätzung des Krieges teilen. Putin ficht das wohl nicht an, sagen Beobachter in Moskau. Was er von den Wirtschaftstreibenden erwarte, habe sich seit der Krim-Annexion und den damaligen ersten Sanktionen nicht geändert: Aufgabe der Geschäftsleute sei, die negativen Folgen all dieser Ereignisse zu minimieren.