Bauunternehmen laufen die Kosten davon
Von Helmut Kipp, Frankfurt
Die Baubranche in Deutschland steckt in einer bizarren Situation. Eigentlich sind die Auftragsbücher voll, und die mittel- und langfristigen Aussichten sind hervorragend. Sowohl im Wohnungsbau als auch in der Sanierung von Infrastruktur wie Brücken, Straßen und Schienennetz gibt es immensen Bedarf. Erst recht gilt das für die energetische Modernisierung von Wohn- und Bürogebäuden. Der Orderbestand erreichte zuletzt den Rekordwert von 64,3 Mrd. Euro. Doch der Krieg in der Ukraine verschärft die durch die Pandemie entstandenen Störungen in den Lieferketten. Infolgedessen sind viele Materialien knapp und extrem teuer geworden.
„Der russische Angriff auf die Ukraine hat deutlich mehr Auswirkungen auf die deutsche Bauwirtschaft, als man vermutet“, stellt Felix Pakleppa klar, Hauptgeschäftsführer des Zentralverbands des Deutschen Baugewerbes. So kommen fast 40% des auf Baustellen hierzulande verbauten Stahls direkt oder als Grundprodukt aus Russland, Belarus oder der Ukraine. Ein anderes Mangelprodukt ist Bitumen, das für den Straßenbau benötigt wird. Große Raffinerien hätten angekündigt, dass sie ihre Bitumen-Produktion kurzfristig deutlich reduzieren müssten, warnte der Hauptverband der Deutschen Bauindustrie (HDB) im März. Teilweise kämen sogar Lieferungen von Schrauben und Nägeln aufgrund von Sanktionen nicht mehr in Deutschland an.
Eine Befragung des Ifo-Instituts belegt, dass sich die Materialknappheit verschärft hat. Im März meldeten 37,2% der befragten Hoch- und 31,5% der Tiefbaufirmen Beeinträchtigungen durch Lieferengpässe. Im Februar waren es erst 23,5 bzw. 17,5%. Kein Wunder, dass es auf Baustellen zunehmend zu Verzögerungen kommt.
„Die deutsche Bauwirtschaft hat zum Ende des ersten Quartals deutlich an Schwung verloren“, konstatiert die Ratingagentur S&P in einem Branchenkommentar und verweist auf gesunkene Auftragseingänge, neuerliche Versorgungsunterbrechungen und erhöhte Unsicherheit.
Nach HDB-Angaben bezieht jedes dritte Branchenunternehmen Material aus Russland oder der Ukraine. Das fünfte Sanktionspaket, das die EU gerade beschlossen hat, könnte die Engpässe abermals verschärfen. Denn die Importverbote betreffen nicht nur Kohle und Wodka, sondern auch Holz und Zement.
Betonstahlmatten waren im Februar um 68% teurer als vor einem Jahr, Bauholz um 54%, Bitumen um 45% und Betonstahl in Stäben um 39%. In diesen Angaben sind die Auswirkungen des russischen Überfalls auf die Ukraine am 24. Februar noch gar nicht enthalten. Die Preissprünge haben weitreichende Folgen. Materiallieferanten machen nämlich keine verbindlichen Angebote mehr. „Teilweise werden Preise nur im Stundenrhythmus garantiert“, sagt HDB-Hauptgeschäftsführer Tim-Oliver Müller. Damit werde es unmöglich, Angebote seriös zu kalkulieren.
Nur tagesaktuelle Preise
Laut einer aktuellen Befragung des HDB berichten die Unternehmen unisono, dass Materialzulieferer nur noch tagesaktuelle Preise anbieten. Über 80% der Firmen hätten sogar angegeben, dass Lieferanten überhaupt keine Preiszusagen mehr machten. Für eine Branche, in der die Abarbeitung von Aufträgen Monate oder länger dauert, ist das ein riesiges Problem. Denn die abrupten Materialverteuerungen werfen die Kalkulation, die dem Vertrag mit dem Kunden zugrunde liegt, über den Haufen. Bei den bisher vorherrschenden Festpreisverträgen können die Baufirmen die zusätzlichen Kosten nicht an den Auftraggeber weiterreichen. Die Unternehmen bleiben auf den Mehrkosten sitzen.
Die Branche hofft nun, dass Preisgleitklauseln sie aus der misslichen Lage befreien. Ansonsten sei die Weiterführung von Projekten gefährdet, kurzfristige Baustopps drohten, warnen die Lobbyverbände. Laut HDB konnte die Bauindustrie bisher mit jedem dritten Auftraggeber Preisgleitklauseln vereinbaren. Entgegenkommen zeigt der Bund, der bereit ist, gestiegene Preise für Baustoffe künftig auszugleichen. Neue Verträge sollen demnach mit Preisgleitklauseln versehen werden, und im Einzelfall könnten auch in bestehenden Verträgen die Preise nachträglich angepasst werden. Die Branche wartet nun auf ähnliche Regelungen insbesondere mit den Kommunen, dem wichtigsten öffentlichen Auftraggeber.
Auch in der Materialbeschaffung stehen die Baufirmen vor Herausforderungen. Sie müssen neue Bezugsquellen auftun, um die Lieferungen aus Russland zu ersetzen. Darüber hinaus würden längerfristige Verträge mit zuverlässigen Lieferanten helfen, die Materialversorgung zu verlässlichen Preisen abzusichern.
Weitere Risiken drohen aus der Nachfrageseite. Denn die Preissprünge für Material und Energie führen dazu, dass Kunden ihrerseits Projekte stoppen. Laut der HDB-Befragung stornieren 30% der Auftraggeber ihr Vorhaben, und 40% wollen Projekte zurückstellen. „Die Situation ist absurd“, schimpft Verbandsgeschäftsführer Müller. „Vor Wochen hat die Branche noch händeringend um Arbeitskräfte geworben. Heute stellen wir uns darauf ein, dass Unternehmen bald Kurzarbeit anmelden müssen.“