Bei Ernährungsexperten verpönt, von Verbrauchern geliebt
Im Blickfeld
Süßigkeiten – bei Ernährungsexperten verpönt, von Verbrauchern geliebt
Gesunde Ernährung mag ein Dauerbrenner in den Medien sein; nachdrücklich wird vor zu viel Zucker und Fett gewarnt. Doch Verbraucher greifen unvermindert zu Süßwaren. Während sich Nestlé peu à peu aus dem stagnierenden Markt zurückzieht, schultert der Branchenriese Mars die größte Übernahme der Konzerngeschichte.
Von Martin Dunzendorfer, Frankfurt
Das Ziel einer gesunden oder zumindest gesünderen Ernährung gehört zu den Dauerthemen in den Medien und im privaten Umfeld. In unzähligen Studien kommen Wissenschaftler zu dem Ergebnis, dass Verbraucher Speisen meiden sollten, die reich an Zucker und Fett sind – etwa Fast Food, Limonaden sowie Süßigkeiten und salzige Snacks. Diese enthalten oft viele Kalorien und wenig Nährstoffe, was zu Übergewicht führen und anfällig für Krankheiten wie Diabetes machen kann.
Mars stemmt 36-Mrd.-Dollar-Kauf
Es wirkt also zunächst unzeitgemäß und wenig zukunftsträchtig, wenn der US-Süßwarenkonzern Mars, der den Großteil seines Umsatzes mit Schokoriegeln macht (u.a. Mars, Milky Way, Twix), statt seinem Portfolio eine ausgewogenere Struktur zu geben, rund 36 Mrd. Dollar für die gleichfalls in den Vereinigten Staaten ansässige Kellanova bietet; einen Hersteller von Chips (Pringles) und mit Zucker versetztem Müsli (Kelloggs´).
Marken großer Süßwarenhersteller | |
Konzern (Land) | Marken (Auswahl) |
Mars (USA) | Mars, Snickers, Twix, Balisto, Milky Way, Bounty, M&Ms, Maltesers, Celebrations, Wrigley`s |
Mondelez International (USA) | Milka, Toblerone, Daim, Cadbury, Cote d´Or, Oreo, Tuc, Ritz, Lu |
Ferrero (Italien) | Nutella, Kinder, Ferrero Küsschen, Ferrero Rocher, Giotto, Raffaello, Duplo, Milch-Schnitte, Hanuta, Tic-Tac, Mon Chéri, Yogurette |
Hershey (USA) | Hershey´s, Kitkat (nur in den USA), Rolo (nur in den USA) |
Nestlé (Schweiz) | Kitkat (nicht in den USA), Lion, Nuts, Choclait Chips, Choco Crossies, Smarties, Rolo (nicht in den USA), After Eight, Yes Torty |
Lindt & Sprüngli (Schweiz) | Lindt, Ghirardelli, Russell Stover |
Haribo (Deutschland) | Haribo, Maoam |
Kellanova (USA) | Pringles, Choco-Krispies, Rice-Krispies, Coco-Pops, Froot-Loops, Frosties |
Der Widerspruch zwischen negativen Expertenmeinungen über Süßwaren sowie einer vermeintlichen Änderung der Essgewohnheiten in vielen Ländern und dem Mega-Deal von Mars lässt sich leicht erklären: Zwar raten Ernährungsfachleute einhellig zu deutlich geringerem Konsum von Lebensmitteln mit hohem Zucker- und Fettanteil, doch die Verbraucher ficht das nicht weiter an. Der Absatz mag kaum noch steigen, aber er geht auch nicht zurück.
Selbst in Deutschland – einem Land, in dem die Konsumenten größeren Wert auf gesunde Ernährung legen als in vielen anderen Teilen der Welt, – ist der Absatz an Süßigkeiten und Knabberartikeln im vergangenen Jahr im Vergleich zu 2022 zwar nur leicht um 0,3% auf 1,81 Milliarden Kilogramm gestiegen, wie der Marktforscher Nielsen IQ ermittelte, doch verwundert selbst diese stabile Verkaufsmenge angesichts des medialen Dauerfeuers gegen Schokolade, Chips und Erdnüsse.
Unveränderte Absatzmenge, aber deutlich höherer Umsatz
Im Gegensatz zur nahezu unveränderten Absatzmenge hat der Umsatz mit Süßwaren und Knabberprodukten 2023 nach Angaben von Nielsen IQ im Vorjahresvergleich um 12,7% zugelegt. Hier schlugen sich die starken Preisanhebungen der Hersteller nieder, die ihre Kostensteigerungen bei Rohstoffen, Energie, Transport/Logistik und Verpackungen an die Händler weiterreichten; diese hoben daraufhin die Abgabepreise an die Endverbraucher an.
Zwar sind in den vergangenen Jahren die Preise für Rohwaren in der Breite geklettert, doch gab es Unterschiede in der Stärke. So ist der Kakaopreis wegen wetterbedingter Produktionsausfälle in Westafrika – allein die Elfenbeinküste steht für rund 40% der weltweiten Kakaoproduktion; die Region für fast zwei Drittel – weitaus kräftiger gestiegen als etwa die Preise für Zucker, Salz oder Palmöl. Für ein Unternehmen wie Mars, das einen starken Fokus auf Schokoladeprodukte hat, war das im Vergleich etwa zu Anbietern salziger Snacks nachteilig. Insofern diversifiziert Mars mit der Übernahme von Kellanova sein Produktportfolio sehr wohl – nur eben nicht in ein Sortiment, das bei Ernährungsexperten auf Wohlwollen stößt. Ein Zusammenschluss mit Kellanova – das kaum auf kartellrechtliche Probleme stoßen dürfte – wird zudem die Verhandlungsposition von Mars in den Verhandlungen mit den Einzelhandelskonzernen stärken.
Kaum noch organisches Wachstum
Mit der Akquisition macht Mars einen Sprung, nachdem das organische Wachstum – insbesondere in der Verkaufsmenge – zuletzt zu wünschen übrig ließ. Das Unternehmen, dessen Anteile von den Nachfahren der Firmengründer gehalten werden, stößt bei seinen Preisen an Grenzen, die viele Konsumenten nicht mehr zu zahlen bereit sind. Das ist ein Phänomen, das in der Lebensmittelindustrie fast alle Markenhersteller betrifft. Mengenwachstum gibt es, wie dargestellt, kaum noch. So versuchen die Nahrungsmittelanbieter neben Zukäufen mit Innovationen zu punkten. Doch im gesättigten Lebensmittelmarkt ein neues Produkt aus dem Hut zu zaubern, das binnen kurzer Zeit zur Cash-Cow wird, ist – freundlich formuliert – ambitioniert.
Das Familienunternehmen Mars hat im vergangenen Jahr nach eigenen Angaben mehr als 45 Mrd. Dollar Umsatz gemacht; Kellanova, die erst 2023 vom Kellogg-Konzern abgespalten worden war, kam auf 13,1 Mrd. Dollar. David Palmer vom Analysehaus Evercore rechnet damit, dass die Übernahme dazu führen wird, den Snack-Umsatz von Mars mittel- bis langfristig auf 36 Mrd. Dollar zu verdoppeln.
Konsolidierung in vollem Gang
Mars ist beileibe nicht der einzige große Süßwarenanbieter, der weiter auf sein Kerngeschäft setzt. Im Oktober 2023 übernahm zum Beispiel die US-Tochter von Ferrero den Süßwarenproduzenten Jelly Belly; der Kaufpreis soll bei 3 Mrd. Dollar gelegen haben. Ebenso setzt Hershey, die ihren Sitz im US-Bundesstaat Pennsylvania hat und führend auf dem Heimatmarkt ist, ungebrochen auf Süßwaren. Auch Mondelez International, die 2012 aus der Aufspaltung der alten Kraft Foods hervorging und seither das Geschäft außerhalb Nordamerikas fortführt – während das nordamerikanische Lebensmittelgeschäft in der neuen Kraft Foods aufging –, zeigt keine nennenswerten Ambitionen, in Geschäfte abseits von Süßwaren einzusteigen. Vielmehr scheiterte 2016 der Versuch, den Wettbewerber Hershey zu übernehmen, nur am Widerstand des Großaktionärs, der Hershey Trust Company.
Nestlé, einer der großen Spieler im Süßwarenmarkt, geht einen anderen Weg: Der größte Lebensmittelkonzern der Welt gehört mit Marken wie Choco Crossies, Lion, Nuts und Smarties sowie Kitkat und Rolo – diese beiden Marken werden in den USA von Konkurrent Hershey vermarktet – zwar immer noch zu den größten Wettbewerbern von Mars, doch sind die Schweizer schon seit fast zwei Jahrzehnten dabei, sich von Assets aus dem Süßwarenbereich zu trennen.
Stufenweiser Rückzug von Nestlé
Die letzte große Übernahme eines Geschäfts, an dem aus heutiger Sicht Gesundheitsapostel heftig Anstoß nehmen würden, fand 2010 statt. Damals kaufte Nestlé das Tiefkühlpizza-Geschäft des US-Nahrungsmittelkonzerns Kraft Foods (seit 2012: Mondelēz International) für 3,7 Mrd. Dollar; damit wurde Nestlé (u.a. Wagner-Pizza) in diesem Segment zum Weltmarktführer. Dagegen trennten sich die Schweizer 2018 von ihrem US-Süßwarengeschäft, das für 2,8 Mrd. Dollar an die italienische Ferrero veräußert wurde, und Ende 2019 verkaufte Nestlé ihre US-Speiseeissparte für 4 Mrd. Dollar an den Lebensmittelhersteller Froneri; nach früheren Angaben hatte dieses Geschäft 2018 einen Umsatz von 1,8 Mrd. Dollar gemacht.
Auch wenn sich Nestlé von ihrer Strategie überzeugt zeigt – so richtig glücklich ist das Management am Genfer See nicht. Dass dem vor gar nicht langer Zeit noch hochgelobten CEO, dem Deutsch-Amerikaner Mark Schneider, nun Knall auf Fall der Stuhl vor die Tür gesetzt wurde, hat sicher viele Gründe. Einer dürfte gewesen sein, dass der Portfolioumbau nicht die Ergebnisse gebracht hat, die der Verwaltungsrat unter Führung von Schneiders Vorgänger, Paul Bulcke, erwartet hatte.
Schon seit der Jahrtausendwende auf dem Gesundheitstrip
Schon Peter Brabeck-Letmathe, von 1997 bis 2008 CEO von Nestlé, setzte den Fokus auf Health, Nutrition und Wellness – mit anderen Worten: Der Konzern sollte sich weg von Süßigkeiten und hin zum Anbieter gesünderer Nahrung entwickeln. Brabecks Nachfolger Bulcke, der das operative Geschäft des Konzerns von 2008 bis Ende 2016 verantwortete, setzte diese Strategie fort mit wenigen Ausnahmen – wie dem Kauf des Tiefkühlpizza-Geschäfts von Kraft Foods 2010. In Bulckes Zeit wurden neue Sparten wie Nestlé Professional (2009) und Nestlé Health Sciences (2011) ins Leben gerufen; letztere verfolgt in der Produktentwicklung medizinische Ziele. Für fast 12 Mrd. Dollar wurde 2012 vom US-Pharmakonzern Pfizer das Geschäft mit Säuglingsnahrung (Wyeth Nutrition) gekauft.
Säuglingsnahrung gehörte neben Kaffee, Haustiernahrung und pflanzenbasierten Produkten (vegetarisches/veganes Essen) zu den Kategorien, denen nach dem Amtsantritt von CEO Schneider Anfang 2017 besondere Aufmerksamkeit – weil starkes Wachstum versprechend – geschenkt wurde.
Die fortwährenden Meldungen des Konzerns über Erfolge und Fortschritte in den vier oben genannten Kategorien, denen Nestlé stärkeres Gewicht verleihen will, sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Übernahmen der vergangenen Jahre in diesen Bereichen bestenfalls Arrondierungen waren, aber keinen signifikanten Umsatzsprung brachten. Einzige Ausnahme: Die Akquisition der Lizenzrechte an den Starbucks-Produkten außerhalb der Läden der US-Kaffeehauskette 2018 für 7,15 Mrd. Dollar. Kritisiert wurde von Branchenkennern zudem, dass die Preise der Zukäufe in der Regel hohe Multiples aufwiesen und die gekauften Unternehmen in einigen Fällen Produkte anboten, die zwar gerade in Mode waren, deren langfristiges Potenzial aber offen war und ist.
Erwartungen nicht erfüllt
Da die Erfolge in den fokussierten Segmenten in den vergangenen Jahren aber nicht so groß waren wie erwartet, wird sich nun, nach dem Wechsel von Schneider zum Konzernveteran Laurent Freixe, die Frage nach einer Rückbesinnung von Nestlé auf frühere Kernsegmente wie Süßigkeiten stellen. Im ersten Halbjahr 2024 stand die Sparte „Confectionery“ mit 3,85 Mrd. sfr (+4,1%) allerdings nur noch für 8,5% des Konzernumsatzes von 45,05 Mrd. sfr (–2,7%). Das organische Wachstum, das bei Nestlé eine der am stärksten beachteten Finanzkennzahlen ist und zuletzt mehrfach Marktteilnehmer enttäuscht hatte, lag im ersten Semester konzernweit bei 2,1%; den mit Abstand höchsten Wert aller Produktgruppen wies „Confectionery“ mit 7% auf. Allerdings war die Marge auf vergleichbarer Basis mit 14,3 (i.V. 14,5)% unterdurchschnittlich; im Konzern lag die Rendite bei 17,4 (17,1)%.
Dass sich die Marge im Süßwarensegment von Nestlé oder der Wettbewerber in nächster Zeit verbessern wird, ist unwahrscheinlich. Die Lebensmittelkonzerne, insbesondere die Markenhersteller, befinden sich derzeit in einer misslichen Lage. In den vergangenen Jahren haben sie ihre Preise mit Verweis auf die Kostensteigerungen kräftig erhöht. Das führte zwar – trotz im Schnitt leicht rückläufiger Verkaufsmengen – zu starkem Umsatzwachstum. Doch spätestens im zweiten Halbjahr 2023 wurde klar, dass die Preise Niveaus erreicht hatten, bei denen eine größere Zahl von Verbrauchern auf günstigere Produkte, etwa Handelsmarken oder No-Name-Ware, auswich. Viele Anbieter vollzogen daraufhin einen Strategieschwenk, denn ist ein Kunde erst einmal verloren, ist es schwer, ihn wiederzugewinnen – selbst wenn die Preise in der Folge stabil bleiben oder sogar wieder gesenkt werden.
Nicht mehr Preis, sondern Menge
In der Branche ist nun die Marschrichtung, das Verkaufsvolumen wieder zu steigern. Dafür wird spürbar mehr Geld in Werbung und andere verkaufsfördernde Aktionen gesteckt, während die Preise im Schnitt nur noch moderat klettern – für die Margen verheißt das nichts Gutes.
Nach den tendenziell zurückgehenden Verkaufsvolumina in den Vorjahren sind die Absatzmengen im ersten Halbjahr 2024 vielfach wieder gestiegen. Doch die Zuwächse sind überschaubar und haben auf den Umsatz nicht annähernd die positive Wirkung wie die früheren Preiserhöhungen. Daher fielen die Erlöse branchenweit zuletzt eher enttäuschend aus.
In jüngster Zeit schüren auch noch neue Medikamente zur Gewichtsreduzierung die Sorgen vor einer abnehmenden Nachfrage nach Süßwaren und Snacks, denn Mittel wie Wegovy und Ozempic – beide von Novo Nordisk – drosseln den Appetit und auch die Lust auf kalorienreiches und fetthaltiges Essen.
Man gönnt sich ja sonst nichts
Nichtsdestotrotz erscheint das Geschäft mit Süßwaren angesichts der von großer Unsicherheit geprägten Aussichten für die Weltwirtschaft ziemlich krisensicher. So lange der Krieg in der Ukraine andauert, die Gefahr einer Ausweitung des Konflikts im Nahen Osten nicht gebannt ist und eine Rezession in vielen Industrieländern möglich erscheint, dürfte der Griff zu Schokoriegeln und Chips zu den Dingen gehören, die sich Verbraucher auch in einem solch negativen Umfeld leisten werden – zumal ungesundes Essen oft günstiger ist als gesundes.