Belgier, Marokkaner, der Fußball und andere Problemfelder
Der Auftritt der marokkanischen Mannschaft gehört sicherlich zu den wenigen positiven Überraschungen, die die aktuelle Fußballweltmeisterschaft in Katar so zu bieten hatte. In Belgien werden die Auftritte der Nordafrikaner mit besonderem Interesse, aber auch zwiegespalten verfolgt. Nach den Siegen Marokkos gegen Belgien, aber in dieser Woche auch gegen Spanien, gab es in Brüssel und anderen größeren Städten des Landes zum Teil heftige Ausschreitungen. „Hat Belgien ein ‚Marokkanerproblem‘?“, fragte die „Neue Zürcher Zeitung“ bereits besorgt. Für die rechtsextreme Partei Vlaams Belang, die gerade so richtig Stimmung gegen die Marokkaner macht und diese am liebsten aus dem Land schmeißen würde, ist die Antwort auf diese Frage eindeutig.
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Klar ist aber nur, dass Marokkaner Belgiens größte Einwanderergruppe bilden, was auf ein Anwerbe-Abkommen zurückzuführen ist, das zwar schon 1974 ausgelaufen ist, das aber auch in den Folgejahren noch zu einem großen Familiennachzug führte. Heute leben schätzungsweise 600000 marokkanischstämmige Menschen in Belgien, üblicherweise ausgestattet sowohl mit einem belgischen als auch einem marokkanischen Pass. Dies macht einen Anteil an der Gesamtbevölkerung von knapp 5% aus. Bei den Unter-18-Jährigen sind es allerdings schon fast 9%, was die gesellschaftliche Bedeutung dieser Gruppe noch einmal deutlich erhöht. Hinzu kommt, dass sich besonders Marokkaner der zweiten und dritten Generation in Belgien benachteiligt und diskriminiert sehen, was ebenfalls die jüngsten Ausschreitungen nach den Fußballspielen mit erklären könnte. Diese fehlende Integration haben schon Studien gezeigt. Sie ist in den vergangenen Jahren aber auch immer wieder Thema in der belgischen Kulturlandschaft gewesen: In der Literatur sorgte beispielsweise Fikry El Azzouzi, ein flämischer Autor mit marokkanischer Herkunft, für Aufmerksamkeit. Sein Buch „Wir da draußen“ über Jugendliche am Rande der belgischen Gesellschaft gibt es auch auf Deutsch. In der Kinoszene feierten Adil El Arbi und Bilall Fallah, zwei junge Regisseure mit marokkanischer Abstammung, Erfolge mit ihrem auch auf der Berlinale gezeigten Film „Black“: eine gewalttätige moderne Romeo-und-Julia-Geschichte aus Brüssel, in der sich Gangs mit Maghreb- und Kongo-Hintergrund bekriegen.
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Die jüngsten Krawalle in den belgischen Großstädten nach den Fußballspielen der Marokkaner finden auch deshalb ein solches Echo in der Politik, weil die Flüchtlingszahlen im Land aktuell so hoch sind wie seit Jahren nicht. Bis Oktober wurden in diesem Jahr bereits 31000 Flüchtlinge unter anderem aus Afghanistan, Syrien oder auch Burundi gezählt. Im Gesamtjahr 2021 waren es nur knapp 26000. Die jüngsten Zahlen auf Monatsbasis zeigten eine Verdoppelung gegenüber dem Vorjahr. Hinzu kommen fast 60000 Ukrainer, die aber hauptsächlich privat untergekommen sind. Das Problem ist, dass in Belgien Unterkünfte und vor allem Personal für die Unterkünfte fehlen. Auch Belgien hat ein massives Fachkräfteproblem, was in diesem Fall dazu führt, dass erstmals seit Jahren in den Großstädten wieder viele Flüchtlingsfamilien mit Kindern campen. Die belgische Regierung versucht, das Migrationsthema irgendwie wegzudrängen – aber vor allem in Flandern gilt die Debatte als toxisch. Gewinner sind vor allem die dortigen rechtsextremen Parteien.
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Und aus einem weiteren Grund haben die Fußballkrawalle zurzeit noch zusätzliche Aufmerksamkeit generiert: In dieser Woche haben in Brüssel die Prozesse zu den Terroranschlägen in der Stadt im März 2016 begonnen, bei denen mehr als 30 Menschen gestorben sind. Beteiligt waren damals – ebenfalls wie bei den Attentaten in Paris im November 2015 – auch Belgier marokkanischer Abstammung. Auch hier gilt es, noch einiges aufzuarbeiten. (Börsen-Zeitung,