Tokio

Bestrafte Verspätung

Japans Züge sind erschreckend pünktlich. Schon bei wenigen Sekunden Verspätung bittet die Eisenbahngesellschaft um Entschuldigung. Das treibt allerdings merkwürdige Blüten – wie nun die Schmerzensgeldklage eines Lokführers zeigt.

Bestrafte Verspätung

Ein Lokführer hat den Eisenbahnbetreiber West Japan Railway Company (JR West) auf 2,2 Mill. Yen (17000 Euro) Schmerzensgeld für erlittenen Stress verklagt. Der Mann sollte einen leeren Shinkansen-Superschnellzug vom Endbahnhof ins nahegelegene Depot fahren. Jedoch begab er sich aus Versehen zum falschen Gleis. Als er seinen Fehler erkannte, spurtete er zu dem Bahnsteig mit seinem Zug und erreichte seinen Arbeitsplatz mit nur einer Minute Verspätung. Mit einer weiteren Minute Verspätung stand der Zug dann auf dem Abstellgleis. Für diese insgesamt zwei Minuten zog JR West dem Mann 85 Yen (0,66 Euro) von seinem Lohn ab, weil er während dieser Zeit nicht gearbeitet habe. Der Lokführer wandte sich an eine Schlichtungsstelle für solche Fälle und argumentierte, er sei ja pünktlich zur Arbeit erschienen. Die Schlichter verringerten seine Strafe auf 43 Yen für jene Minute, die er verspätet an seiner Lok eingetroffen war. Dagegen wehrt sich der Lokführer nun mit der Forderung nach einem Schmerzensgeld.

Der Fall hat in Japan für Aufsehen gesorgt. Einerseits wunderte man sich über das kleinliche Verhalten von JR West, da es sich um eine Leerfahrt handelte – kein einziger Fahrgast war von der „Verspätung“ betroffen. Andererseits widerspricht der Gehaltsabzug der Behauptung der Bahnbetreiber, eine Verspätung sei kein Vergehen. „Wir erziehen nicht zur Pünktlichkeit, es gibt weder Bonuszahlungen dafür noch Strafen für Verspätungen“, versicherte ein Ausbilder von Lokführern in einem Interview. Auch die Logik von JR West erschließt sich nicht – dann müsste ein Arbeitgeber auch Lohn dafür abziehen, wenn sich jemand auf dem Weg zu einem Meeting versehentlich verläuft und verspätet eintrifft.

Doch bleiben wir bei den japanischen Eisenbahnen und ihren Fahrgästen, die beide auf jeweils ihre Weise von Pünktlichkeit besessen sind. Manche Betreiber entschuldigen sich schon für eine Verspätung von nur einer Minute. An jedem Bahnhof können Fahrgäste eine schriftliche Bestätigung für ihren eigenen Arbeitgeber bekommen, dass ihr Zug tatsächlich verspätet war. Einige Reisende wiederum beklagen sich sofort, wenn sie wegen eines unpünktlichen Zuges zum Beispiel ihren Anschluss verpasst haben.

Hier die „schockierenden“ Fakten: Die 378 Shinkansen-Züge, die täglich auf den Gleisen von JR West dahinrasen, treffen im Schnitt zwölf Sekunden verspätet am Endbahnhof ein! Sämtliche Züge von JR East – einschließlich S-Bahnen – verspäten sich im Jahresschnitt nur um 66 Sekunden. Wir reden hier von einem Bahnunternehmen, das auf einem viermal kleineren Netz als die Deutsche Bahn jährlich mehr als dreimal so viele Passagiere über eine fast doppelt so große Gesamtentfernung transportiert.

Viele Japaner planen ihre Fahrten mit speziellen Smartphone-Apps auf die Sekunde genau. Darin legen sie fest, ob sie schnell oder langsam umsteigen wollen. Dann schlägt ihnen die Software passende Verbindungen vor. Die Apps wissen sogar, in welchem Waggon man fahren muss, um beim Umsteigen den kürzesten Weg zum Anschlusszug zu haben. Man setzt stillschweigend voraus, dass die Züge den Fahrplan exakt einhalten.

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Ausschlaggebend für die Präzision scheint mir der enorme Fokus darauf zu sein, die Motivation der Mitarbeiter zu schüren, ihr Selbstbewusstsein zu stärken und Freude bei der Arbeit zu erzeugen. Aus diesem inspirierten Regelbetrieb ergibt sich das Einhalten des Fahrplans ganz nebenbei. Ein Symbol für den Eifer fällt jedem Japanbesucher auf: Beim Ein- und Abfahren der Züge strecken JR-Mitarbeiter auf dem Bahnsteig und am Zugende einen weiß behandschuhten Arm aus, zeigen in die Fahrtrichtung und blicken prüfend nach vorn.

„Die körperliche Geste zwingt zur Konzentration, was flüchtige Fehler vermeidet“, erzählte mir der Lokführerausbilder. Daher studiert das Personal diese Gesten gründlich ein. Die Kehrseite des Ehrgeizes zeigt sich nun in der erwähnten Schmerzensgeldklage – der Mitarbeiter fühlt sich von seinem Arbeitgeber schlecht behandelt. Schließlich hatte er sich mit seinem Spurt zur Lok angestrengt, die Verspätung zu minimieren.