US-Präsident

Bidens verlorenes Jahr

Während seines ersten Jahres im Amt hat US-Präsident Joe Biden Fehler begangen. Dass von wenigen Ausnahmen abgesehen seine politische Agenda ins Stocken geriet, lag aber am Widerstand der republikanischen Opposition.

Bidens verlorenes Jahr

Ein Jahr nach dem Sturm auf das Kapitolsgebäude in Washington ist Amerikas Demokratie ziemlich ins Wanken geraten. Der damalige US-Präsident Donald Trump hatte mit einer hetzerischen Rede den blutigen Aufstand angezettelt und hält bis heute die Illusion aufrecht, dass Joe Biden und die Demokraten ihm die Wahl gestohlen hätten. Viele republikanische Politiker spielen Trump in die Karten, indem sie die sogenannte „große Lüge“ am Leben halten. Sie weigern sich, Biden als rechtmäßigen Präsidenten anzuerkennen, und versuchen, jeden legislativen Vorstoß zu Fall zu bringen.

Die Folgen sind immens, insbesondere für den 46. Präsidenten. Zwei Wochen nach dem Aufstand wurde der Demokrat vereidigt, und vom ersten Tag an war seine Präsidentschaft mit einer schweren Hypothek belastet. Ob­wohl Biden ein „Präsident für alle Amerikaner“ sein wollte, wusste er, dass mehr als ein Drittel seiner Landsleute nicht Trump, sondern ihn für einen Lügner und Betrüger hielten. Folglich bestreitet bis heute ein bedeutender Teil des Wahlvolks die Legitimität eines Regierungschefs, der seinen Gegner mit einem Abstand von über sieben Millionen Direktstimmen klar bezwungen hatte.

Die kollektive Ablehnung, auf die Biden bei der republikanischen Basis stößt, erschwert wiederum seine Handlungsfähigkeit und hat ihn in der Wählergunst weit abrutschen lassen. Folglich hat er während des ersten Jahres im Amt nur einen Bruchteil seiner politischen Agenda umsetzen können. Mit Ausnahme des Gesetzes zur Modernisierung der Infrastruktur torpediert die Oppositionspartei im Senat jede Initiative des Präsidenten. Jüngstes Opfer der Blockadestrategie ist das „Build Back Better“-Gesetz zum Ausbau des sozialen Sicherheitsnetzes und zum Kampf gegen den Klimawandel. Höhere Steuern für Unternehmen und für wohlhabende Haushalte, mit denen er einige Programme finanzieren und für mehr Steuergerechtigkeit sorgen will, wird Biden angesichts des republikanischen Widerstands ohnehin nicht durchsetzen können.

Zwar sind Bidens Fehler während des ersten Jahres unbestreitbar, angeführt von dem desaströsen Truppenabzug aus Afghanistan. Auch schadet seinem Ansehen, dass die Regierung nicht adäquat auf die Omikron-Variante des Coronavirus vorbereitet war und die USA nun unter einer akuten Knappheit an Tests leiden. In dem Bemühen, Gesetze durch den Kongress zu bekommen, hat er aber Kompromissbereitschaft bewiesen und kommt nur deswegen auf keinen grünen Zweig, weil die Oppositionspartei ihm allein aus politischem Kalkül selbst den kleinsten Etappensieg verweigert.

Wenn Bidens Agenda während der nächsten Monate nicht vom Fleck kommt, dann könnten die Demokraten im November in beiden Kammern ihre Mehrheit verlieren. Damit würde die zweite Hälfte seiner Amtszeit faktisch zum Scheitern verurteilt sein. Dem Regieren per Dekret sind nämlich klare Grenzen ge­setzt, und ohne die Rückendeckung des Senats kann der Präsident nicht einmal politische Ämter mit seinen Wunschkandidaten besetzen.

Noch schwerer als die politische Komponente wiegen die gesellschaftlichen Folgen des Aufstands und des Fortbestands der großen Lüge, die Trump bei verschiedenen Veranstaltungen in den kommenden Wochen wiederholen wird. Ein Jahr danach ist die Nation nämlich nicht nur tief gespalten. Die republikanische Basis, die den Aufstand mittlerweile als patriotische Heldentat feiert, ist zudem radikalisiert und könnte jederzeit bereit sein, wieder zu Waffen zu greifen. Kaum verwunderlich sind daher neue Umfrageergebnisse, wonach fast zwei Drittel der Amerikaner glauben, dass friedliche Amtsübergaben in den USA nun der Vergangenheit angehören.

Die Voraussagen einiger Schwarzmaler, die meinen, dass folglich 160 Jahre nach dem ersten Bürgerkrieg die Nation nicht weit vom nächsten entfernt ist, mögen zwar übertrieben sein. Schließlich haben die Gerichte und selbst der mehrheitlich republikanisch besetzte Oberste Gerichtshof gegenüber Bemühungen, den Rechtsstaat zu unterlaufen, bemerkenswerte Resistenz bewiesen. Am Rande eines Abgrunds steht die US-Demokratie aber allemal. Der einzige Weg zurück besteht darin, dass sich die Republikaner auf ihre konservativen Kernwerte zurückbesinnen. Anstatt ihre radikalen Mitglieder zu akzeptieren und zu fördern, sollten sie sich von diesen konsequent distanzieren und im Interesse des Gemeinwohls jenen Olivenzweig, den Biden ihnen angeboten hat, auch entgegennehmen.

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