Im BlickfeldReform des National Health Service

Öffentliches Gesundheitswesen am Ende

Eine unabhängige Untersuchung hat die Probleme des britischen Gesundheitswesens schonungslos offengelegt. Labour setzt nun zur Notoperation an.

Öffentliches Gesundheitswesen am Ende

Im Blickfeld: Reform des National Health Service

Öffentliches Gesundheitswesen am Ende

Labour setzt zur Notoperation an. Ein unabhängiger Untersuchungsbericht legt die Probleme des National Health Service schonungslos offen.

Von Andreas Hippin, London

Nur Labour wird dazu in der Lage sein, das marode öffentliche Gesundheitswesen zu sanieren. Das schrieben vor dem Regierungswechsel in Westminster jedenfalls viele politische Kommentatoren. Denn den Konservativen wurde bei jedem Reformversuch unterstellt, den National Health Service (NHS) filetieren und die attraktiven Teile an private Investoren verscherbeln zu wollen.

Doch Gesundheitsminister Wes Streeting, der den NHS als „kaputt“ bezeichnete, steht vor einer schier unlösbaren Aufgabe. Mit einer Gehaltserhöhung von 22% für Assistenzärzte in öffentlichen Krankenhäusern hat Labour den Gewerkschaften und ständischen Vereinigungen im Gesundheitswesen Appetit auf mehr gemacht. Sie sind in den vergangenen Jahren weiter nach links gerückt und dürften auch nicht vor weiteren Streiks zurückschrecken.

Renitente Gewerkschaften

Die Mitglieder der British Medical Association (BMA) stimmten zwar der jüngsten Tarifeinigung zu. Der Verband machte aber zugleich klar, dass man auch in den kommenden Jahren Gehaltserhöhungen jenseits der Teuerungsrate erwarte. Sonst werde man erneut streiken. Die rücksichtslosen Arbeitskampfmaßnahmen der BMA trugen ihren Teil dazu bei, dass die Wartelisten für Routineeingriffe nach der Pandemie noch länger geworden sind.

Aktuell machen viele Allgemeinmediziner im öffentlichen Gesundheitswesen Dienst nach Vorschrift, um gegen eine aus ihrer Sicht zu niedrige Erhöhung der Praxisbudgets zu protestieren. Vor allem dürften sich diese Interessengruppen gegen alles stellen, was nach Privatisierung aussieht.

Alan Milburn kehrt zurück

Da ist es fast schon eine positive Überraschung, dass Tony Blairs Gesundheitsminister Alan Milburn bei der Reform des NHS eine Rolle spielen soll. Er hatte sich damals für eine stärkere Miteinbeziehung der Privatwirtschaft starkgemacht. Dazu gehörten auch Private Finance Initiatives (PFI), eine Form von Public-Private Partnerships, für den Krankenhausbau.

Die damit verbundene Hoffnung war, in Zeiten knapper Kassen staatliche Dienstleistungen zeitsparender und kostengünstiger bereitstellen zu können. Zugleich sollten neue Schulden vermieden und das Risiko zumindest teilweise an die privaten Partner übertragen werden. Nach dem spektakulären Zusammenbruch des Baukonzerns Carillion kündigte der konservative Schatzkanzler Philip Hammond an, keine neuen PFI-Verträge mehr abzuschließen.

Hohe Inaktivität

Die langen Wartelisten des NHS haben dafür gesorgt, dass die wirtschaftliche Inaktivität aus gesundheitlichen Gründen seit der Pandemie stark zugenommen hat (siehe Grafik). Es geht dabei mittlerweile um 2,8 Millionen Menschen.

Am Geld kann es kaum liegen. Großbritannien gibt knapp 11% des Bruttoinlandsprodukts für das Gesundheitswesen aus. Damit liegt das Land unter den 38 Mitgliedsländern der OECD auf Platz 10, hinter Schweden und vor Belgien.

Hemmschuh für das Wachstum

Ließe sich die Produktivität des Gesundheitswesens erhöhen, könnte das für viele Menschen die Rückkehr in die Berufstätigkeit beschleunigen. Das wäre angesichts des allgegenwärtigen Arbeitskräftemangels ein wichtiger Beitrag zum wirtschaftlichen Wachstum.

Ein unabhängiger Untersuchungsbericht hat schonungslos offengelegt, wie schlecht es um den NHS bestellt ist. Durchgeführt wurde die Untersuchung von Ara Darzi, einem Chirurgen, der unter dem Labour-Premierminister Gordon Brown als Staatssekretär im Gesundheitsministerium tätig war.

Erstaunliche Ergebnisse

Die Ergebnisse sind mitunter erstaunlich. „Das NHS-Budget wird nicht für das ausgegeben, wofür er ausgegeben werden sollte“, heißt es in dem Bericht. Zu viel werde in Krankenhäusern gemacht, zu wenig in der allgemeinmedizinischen Versorgung. „Die Produktivität ist zu niedrig“, lautet das Fazit. Zwischen 2006 und 2022 stieg der Anteil der Krankenhäuser am Gesamtbudget von 47% auf 58%.

Zwischen 2019 und 2023 sei die Belegschaft der Krankenhäuser um 17% gewachsen. Im Vergleich zur Situation vor 15 Jahren gebe es 35% mehr Krankenschwestern für erwachsene Patienten und 75% mehr, die sich um Kinder kümmern. Die Zahl der vergebenen Termine, Operationen und Behandlungen sei aber nicht im gleichen Maße gestiegen.

Blockierte Betten

Einer der Gründe dafür sei, dass 13% der Betten von Patienten blockiert würden, die eigentlich entlassen werden könnten. Dabei handelt es sich vor allem um ältere Menschen, die allein leben und zu Hause nicht versorgt werden. Sie bleiben häufig länger im Krankenhaus, um zu vermeiden, dass sie innerhalb weniger Tage erneut eingeliefert werden.

Die Debatte ist nicht neu. Für die Misere in der häuslichen Pflege gibt es bislang keine Lösung, denn mit der Forderung, selbst mehr vorzusorgen und sich um ältere Familienmitglieder zu kümmern, lassen sich keine Wählerstimmen gewinnen.

Weniger Operationen

Das Ergebnis ist dem Bericht zufolge, dass Fachärzte 7% weniger Termine mit ambulanten Patienten gemacht hätten, Chirurgen 12% weniger Operationen durchgeführt hätten und die Aktivität von Mitarbeitern in der Notfallmedizin um 18% zurückgegangen sei.

„Es ist zu betonen, dass die rückläufige Produktivität keine niedrigere Arbeitsbelastung für das Personal bedeutet“, heißt es in dem Bericht. „Sie zerstört vielmehr ihre Freude an ihrer Tätigkeit. Statt ihre Zeit und ihr Talent darauf zu verwenden, bessere Ergebnisse zu erreichen, müssen sie ihre Anstrengungen darauf verschwenden, Probleme in den Abläufen zu lösen. Dazu gehört, verzweifelt verschiedene Stationen abzutelefonieren, um freie Betten zu finden.“

Wunder Punkt Allgemeinmedizin

Seit 2006 haben Regierungen versprochen, die Pflege aus den Krankenhäusern in die Gemeinden zu verlagern. Das Gegenteil ist passiert. Die Zahl der voll qualifizierten Allgemeinmediziner liegt gemessen an der Bevölkerung um knapp 16% niedriger als in anderen hoch entwickelten Ländern (OECD 19). Die Zahl der Pflegekräfte für psychisch Kranke ist wieder auf den Wert von 2010 zurückgegangen. Zwischen 2009 und 2023 ist die Zahl der Krankenschwestern in der allgemeinmedizinischen Versorgung um 5% gesunken. Ihre Zahl im Sozialdienst, dessen Hausbesuche in den ersten fünf Lebensjahren entscheidend zur Entwicklung beitragen können, ist zwischen 2019 und 2023 um fast ein Fünftel eingebrochen.

Der Bericht hat Transparenz geschaffen, was das Ausmaß der Probleme angeht. Nun ist Labour dran.

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