China stolpert in den Mai
In früheren Zeiten, als Kommunismus noch richtig was mit Hammer und Sichel zu tun hatte, war der 1. Mai etwas Besonderes in China. Der Tag, an dem man sich und die Kombinatskollegen als Helden der zwar dürftig entlohnten, aber durch Gemeinsinn geadelten Arbeit feiern durfte. Das Thema hat sich dann allerdings beim Aufbruch ins moderne chinesische Wirtschaftsleben mit Anlehnung an den kapitalistischen Westen immer mehr erledigt. Dort steht der 1. Mai für Gewerkschaftsbelange und protestgeladene Aufmärsche und bisweilen gar für eine Anarcho-Szene, die ihre Frühlingsgefühle mit dem Griff zum Molotow-Cocktail zum Ausdruck bringt.
Da die Kommunistische Partei Chinas weder etwas mit Gewerkschaften noch mit jugendlicher Protestkultur am Hut hat, wurde der Feiercharakter des 1. Mai in Richtung Ausflugstag „gentrifiziert“. Der Held der Arbeit soll sich mal ein bisschen herausputzen und friedlich mit der Familie im Park spazieren gehen. Vor einigen Jahren hat man sich dann ein gutes Beispiel an den Nachbarn Japan und Korea genommen, zwei Länder mit makelloser Arbeitshingabe und Dienstleistungskultur. Dort hat man den Maibeginn zu einer „Goldenen Woche“ herangezüchtet, die den Jahreshöhepunkt für Tourismus und Gastgewerbe abgibt.
Chinas Ökonomieplaner haben die Liebe zu einem von Konsum und Dienstleistungen geleiteten Wirtschaftsmodell relativ spät entdeckt und erst vor ein paar Jahren angefangen, ein paar zusätzliche gesetzliche Feiertage an den 1. Mai dranzustricken und zum Konsumfestival und Boom-Event für Inlandstourismus hochzustilisieren. 2019 hat das prächtig funktioniert, 2020 fiel die Chose wegen der ersten Corona-Welle ins Wasser. 2021 traute man sich noch nicht so recht wieder, und in diesem Jahr sieht es so mau aus wie 2020.
Schanghai, in früheren Zeiten Hauptreiseziel für Inlandstouristen, ist im harten Lockdown. Dutzende anderer Großstädte sind in einem Alarmzustand, der an einem freien Tag höchstens noch zum Hamsterkauf, aber bestimmt nicht zum Restaurantbesuch oder Tagesausflug animiert. Saubere Gegenden, die bislang noch keinen Omikron-Fall hatten, empfangen keine Touristen von auswärts. Und für alle diejenigen, die dennoch trotzige Reiselust packen mag, gilt es abzuwägen, ob der Luftwechsel lohnt. Hernach wird man möglicherweise zum Rückkehrer aus einem „Risikogebiet“ eingestuft. Dann folgt dem Kurztrip ein wesentlich längerer Zwangsurlaub im Quarantänehotel mit garantiert null Sternen.
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Und wie sind die Einwohner im seit Wochen komplett verriegelten Schanghai in den Mai gekommen? Die Stadtverwaltung hat mit einer denkbar komplizierten Verordnung gut die Hälfte der Einwohner dahingehend eingestuft, sich in einem Gebiet zu befinden, das als inzidenzfrei genug gilt, um sich nicht strafbar zu machen, wenn man aus seiner Wohnung heraustritt und in der umliegenden Nachbarschaft spazieren geht. Tatsächlich haben die meisten Verwaltungen der absperrbaren Wohnanlagen die Schleusen dennoch nicht geöffnet und das mit ihrem Verständnis des, wie gesagt, sehr komplizierten Regelkodexes begründet. Darüber hinaus wurde mit einem immensen Polizeiaufgebot dafür gesorgt, dass die tatsächlichen Freigänger nicht auf dumme Gedanken kommen.
Ein ausgeklügeltes Straßensperren- und Kontrollsystem sorgt nun dafür, dass jeden Maibegrüßungs-Spaziergänger oder Shared-Bike-Radler schon nach wenigen Hundert Metern das schlechte Gewissen überkommt, vielleicht doch wieder gegen irgendeine Zonenbegrenzungs- und Auslaufregel verstoßen zu haben, so dass er lieber wieder kleinlaut Richtung Wohnbunker zurückschleicht.
In einigen Außenbezirken ist es dennoch zu einem Anflug von Mai-Krawallen mit faulen Tomaten und Gammelgemüse als Wurfgeschossen gekommen. Die Täter waren allerdings keine anarchistischen Youngsters, sondern aufgebrachte Rentner. Die durften beim ersten Ausgang feststellen, dass für sie bestimmte Versorgungspakete von der Lokalverwaltung nicht zugestellt worden waren, sondern in einem Lagerraum am Ende der Straße vor sich hin verrotteten.