Schanghai

Chinas Fußballherz schlägt nur für Adoptivkinder

Chinesen müssen mangels eigener Fußball-Heroen ihr Fanherz bei der laufenden WM anderweitig verschenken. Das birgt aber Tücken.

Chinas Fußballherz schlägt nur für Adoptivkinder

WM-Genuss in China ist Adoptionssache. Das eigene Kind, sprich die heimische Nationalmannschaft, ist ein völlig missratener Balg, der noch nie was auf die Reihe bekommen hat und aus dem auch in Zukunft wohl nichts werden kann. Die menschliche Bereitschaft, Hoffnungen und zeitliches Engagement in ein Projekt zu stecken, das einem garantiert nur Kummer bereiten wird, hat natürliche Grenzen. Entsprechend ist auch das emotionale Investment in die das chinesische Nationaltrikot tragenden Herren der Schöpfung höchst sparsam dosiert. Einmal nur, im Jahr 2002, schaffte Team China die Qualifikation für das Turnier, verabschiedete sich aber torlos und kopflos spielend mit einer erbärmlichen Leistung in der Vorrunde. Seitdem ist auch das Ringen um asiatische WM-Teilnehmerplätze zur Farce verkommen. Länder wie Oman, Syrien, Irak oder Usbekistan machen schmerzhaft bewusst, dass so ziemlich überall entlang der Seidenstraße weniger schlecht Fußball gespielt wird als an ihrem Ausgangsort.

Für eine Nation mit geschätzt rund 600 Millionen bekennenden Fußballfans gilt es im Ausland Ausschau zu halten, wenn man beim WM-Turnier leidenschaftlich bei der Sache sein will. Und wer bis in die letzte Turnierwoche hinein mit größter statistischer Wahrscheinlichkeit etwas zu feiern haben möchte, tut rationalerweise natürlich nicht verkehrt daran, sein Fanherz in erster Linie an jene Fußballnationen zu vermieten, die den WM-Pokal in der Vergangenheit schon einmal in die Höhe recken durften und mythische Fußballergestalten hervorgebracht haben.

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Die Sympathiereihenfolge gestaltet sich damit denkbar einfach. Ganz oben stehen Brasilien und Argentinien, danach kommen Italien und Deutschland und dann mit schon einigem Abstand Frankreich, Spanien und England. Der Großteil der chinesischen WM-Zuschauergemeinde hat also von vornherein ziemlich gute Karten auf der Hand. Mit den USA muss man es Gott sei Dank bislang nicht halten. Italien ist nicht mit von der Partie, aber als Joker steht erneut Portugal bereit, dem der in China hoch verehrte Star Ronaldo besonderen Glamour verleiht.

Die Strategie macht sich auch im Wettgeschäft bezahlt. In China sind von den Staatslotterien abgesehen die meisten Formen des Glücksspiels zwar untersagt, aber bei Sportwetten gibt es Ausnahmen, die insbesondere die Fußball-WM betreffen. Davon zeugen ellenlange Schlangen von den sonst eher spärlich frequentierten Lotto-Annahmestellen. Jeder darf sich austoben und Geld auf befreundete und auch weniger befreundete Nationen setzen, ohne sich zum Volksverräter zu machen. Schließlich gibt es keine Möglichkeit, mit einem unpatriotischen Niederlagen-Tipp aufs eigene Land „unlautere“ Gewinne einzustreichen.

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Trotz perfekter Vorkehrungen wissen die Fußballgötter der WM-Harmonie nach chinesischen Vorstellungen bisweilen einen Streich zu spielen. Der denkbar unerwartete Auftaktsieg von Saudi-Arabien gegen Argentinien hat Abermillionen von chinesischen Youngstern, die in ihrem Schlafzimmer mindestens ein Bild vom Superstar Lionel Messi hängen haben, Rotz und Wasser heulen lassen. Danach haben sie in ihrer von Tränen durchnässten hellblau-weißen Bettwäsche keinen rechten Schlaf finden können. Das verstört chinesische Eltern, die wenig mehr fürchten als Ruheverluste, die ihre Zöglinge von einer Topform auf der Schulbank abhalten könnten.

Verstörend auch die Causa Deutschland – Japan: Chinas Glaube an die „Deguo Dui“ genannte Mannschaft und ihre mit fahrbaren Untersätzen aus Deutschland vergleichbare Zuverlässigkeit und Stabilität ist beträchtlich. Wenn er vom Fußball-Schwellenland Japanern erschüttert wird, schmerzt es doppelt. Ein bekannter chinesischer Influencer hat es in einer Art Klageliedvideo zum Ausdruck gebracht: „Das sind unsere Nachbarn, sie haben eine ähnliche körperliche Statur. Warum können sie dann im Fußball gewinnen und wir nicht?“ Die Antwort muss mindestens vier weitere Jahre auf sich warten lassen.