Moskau

Das ist – nicht nur – witzig

In Russland hat immer das Widersprüchlichste nebeneinander existiert, als wäre es das Selbstverständlichste überhaupt.

Das ist – nicht nur – witzig

In Russland hat immer das Widersprüchlichste nebeneinander existiert, als wäre es das Selbstverständlichste überhaupt. Verehrung und Verachtung von Autoritäten und Machthabern, fraglose Konformität auf der einen und Subversion auf der anderen Seite. Der herausragende Schriftsteller Wladimir Sorokin sieht die Mentalität des Landes generell aus zwei widersprüchlichen Komponenten zusammengesetzt: dem Hang zum Sakralen und dem Hang zum Destruktiven.

Man sollte sich keine Illusionen darüber machen, dass die personenkultartige Verehrung des Staatschefs Wladimir Putin und die Konformierung des Volkes im Laufe der 22 Jahre Putin’scher Herrschaft die Oberhand gewonnen haben. Dennoch kann man auch die Augen nicht davor verschließen, dass sich Dissens und vor allem entlarvender Humor als potenziell subversives Mittel erhalten haben und in Zeiten der Zuspitzung wieder an Bedeutung gewinnen.

Das war etwa im Jahr 2011 vor und während der bislang größten Proteste seit der Wende vor 30 Jahren so. Die damalige Stimmung habe der Staatsmacht die Aura des Sakrosankten genommen und der Bevölkerung den Humor als politisches Instrument zurückgegeben, wie die russische Zeitung „Wedomosti“ später treffend analysierte.

Noch kann man aktuell nicht davon sprechen, dass sich so ein Szenario wie 2011 in der Stimmung und im subversiven Protest wiederholen würde. Noch ist die Bevölkerung mit der ersten großen Irritation seit Beginn des Ukraine-Krieges beschäftigt, weil durch die Teilmobilisierung der Krieg und das Gespräch darüber nun in den Wohnzimmern jeder Familie anzukommen beginnen. Zumal laut Bloomberg ausgewählte staatliche Medien zunehmend über die Fehlschläge des russischen Militärs berichten dürfen, weil eine unablässig optimistische Propaganda wachsende öffentliche Zweifel eher noch schüren könnte. Aber der Witz als politisches Element beginnt jetzt – vielleicht auch deshalb – allmählich wieder zu kursieren.

Gewissermaßen als Frischluftventil in einer stickig-ängstlichen Atmosphäre ist er so neu nicht. Von Anfang an hat er das Regime und die Machtausweitung Putins begleitet. Gewiss, gerade in den ersten zehn Jahren seiner Herrschaft hatten Witz und Humor keinerlei politische Sprengkraft. Am Anfang ging es um die angebliche Unfähigkeit des neuen Machthabers, sich in der Komplexität des Kremls und dessen Strukturen zurechtzufinden, weshalb er immer seinen Stabschef um Rat kontaktieren musste. Auch beschränkten sich die Witze vorwiegend darauf, das Wesen des Herrschers zu erfassen. Putin – so lautete ein Witz – öffnet am Abend die Kühlschranktür und sieht wie die Sülze durch die Bewegung zittert. „Du musst keine Angst haben“, sagt der Kremlchef zu ihr: „Ich hole mir nur ein Bier“. In einem anderen Witz aus dieser Zeit sitzt Putin mit seinen Beratern im Restaurant. Der Kellner nimmt die Bestellung auf und fragt Putin, was er zur Hauptspeise nehme: „Kotelett“, sagt dieser. „Und was ist mit dem Gemüse?“, fragt der Kellner. „Das Gemüse nimmt auch Kotelett.“

Mit den Abnützungserscheinungen der Person Putins änderten sich auch Struktur und Tonalität der Witze. Aktuell nehmen sie vor dem Hintergrund einer Kriegs- und Gewaltrhetorik – und verschärft durch die am 21. September verkündete Teilmobilmachung – auch eine deutlich zynischere Form an. „Was bedeutet Teilmobilmachung?“, heißt es da etwa: „Dass du in Teilen zurückkommst: Zuerst eine Hand, dann ein Bein. Kurz gefasst: In Teilen“. Oder in Reminiszenz an den letzten großen Einschnitt durch die Corona-Pandemie, durch die in Russland exorbitant viele Menschen gestorben sind: „Wo kann man was über Corona lesen? Ich will mich von der Mobilmachung entspannen.“ Und zu guter Letzt einer auf das Narrativ, das vom Kreml als Kriegsgrund in Umlauf gebracht wurde. Ein Mann bekommt eine Vorladung in die Einberufungsbehörde ausgehändigt. „Mit wem führen wir Krieg?“, fragt er: „Na, mit den Faschisten“, so die Antwort. „Und gegen wen?“ Die Witze sind Teil jener gesellschaftlichen Diskussion, die erst jetzt, sieben Monate nach Kriegsbeginn, aufgrund der Teilmobilmachung in Gang kommt. Und die der Kreml nicht mehr unter Kontrolle hat.

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