Das Wemmern fällt aus
In Hessen würde in diesen Tagen eigentlich die Zeit des Wemmerns beginnen. Das ist die Phase, wenn Frankfurter, Darmstädter oder Offenbacher ihre Gespräche mit der Verabschiedungsformel beginnen: „Wemmer uns nischt mehr sehn, dann wünsch isch schon ma frohes Fest und guden Rutsch.“ Wie gesagt: Würde. Eigentlich.
Aber in Zeiten von Corona ist alles anders. Die Wahrscheinlichkeit, die Kollegen in den nächsten drei Wochen in den wegen Homeoffice weitgehend verwaisten Bürofluren noch einmal anzutreffen, geht ebenso gegen null wie die Chance, bestimmten Bekannten bei Klatschregen und Temperaturen um den Gefrierpunkt beim Flanieren auf Zeil oder Opernplatz vor Heiligabend nochmals in die Arme zu laufen. Weil es also dieser Tage ohnehin nichts werden dürfte mit der zufälligen Begegnung, kann man sich die Wemmerei von vorneherein sparen. Beziehungsweise: Chronische Pessimisten vom Stamme Hiob könnten – angesichts der wenig ermunternden Pandemie-Entwicklungen – auf die Idee kommen, sich bereits heute schon mal auf längere Zeit zu verabschieden: Wemmer uns nischt mehr sehn, wünsch isch schon ma frohe Ostern!
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In der Tat kommt es in Zeiten leer gefegter Bürotürme immer mal wieder zu kuriosen Dialogen. „Und Sie müssen wahrscheinlich die neue Kollegin sein?“ „Ja, ich bin im Sommer vorigen Jahres eingestiegen.“ Manchen Kollegen hat man mittlerweile schon so lange nicht mehr gesehen, dass man ihn kaum mehr wiedererkennt. „Und Sie müssen wahrscheinlich die neue Kollegin sein?“ „Nein, ich bin dein alter Büronachbar, aber ich war seit zwei Jahren nicht mehr beim Friseur.“ Neulich habe ich im Treppenhaus gar den Satz aufgeschnappt: „Mensch, bist du groß geworden!“
Mit Blick auf die Gesprächspartner und Kunden gewinnen in Zeiten des Nicht-mehr-auf-Tagungen-und-anderen-Veranstaltungen-Aufeinandertreffens die Weihnachtsgrußkarten an Bedeutung. Die guten Wünsche zum neuen Jahr sind nicht ohne Grund oft handschriftlich ergänzt durch den Wunsch, sich doch „hoffentlich ganz bald mal wieder persönlich zu sehen“ – also IRL, in real life.
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Einer der wenigen Orte, an dem es derzeit tatsächlich noch zu überraschenden Begegnungen mit Bekannten kommt, ist das Impfzentrum an der Messe. Was Wunder, schließlich steht dort gefühlt die halbe Stadt Schlange.
Die Jim Schlaus, die glauben, cleverer zu sein als alle anderen, werden dort übrigens prima geerdet. Wer etwa vermutet, sich die Warterei allein dadurch sparen zu können, dass er jenseits der Rushhour-Zeiten vorbeischaut, wird schnell lernen, dass vor dem Impfzentrum immer Rushhour ist.
So wurde mein unanständig frühes Aufstehen am vergangenen Sonntag um 6 Uhr und die Ankunft an der Messe um zehn vor sieben lediglich mit Platz 180 in der Warteschlange belohnt. 179 andere hatten ihren Wecker noch etwas früher gestellt. Umgerechnet in die zentrale Maßeinheit der Wartenden entspricht Platz 180 knapp zweieinhalb Stunden bis zur Sp(r)itze. Davon anderthalb Stunden draußen vor der Tür und eine Stunde im Messegebäude – drin heißt insofern noch lange nicht dran.
Und trotzdem: Ein Glück, nicht noch später gekommen zu sein. Diejenigen, die erst um 7.15 Uhr an der Messe eintrafen, mussten sich auf eine ungefähr doppelt so lange Wartezeit einstellen. Psychologisch besonders brisant: Von dort aus, wo sie sich in die Schlange einreihten, konnte man das Messegebäude nicht einmal mehr sehen. Ob bei ihnen am Tag danach Schüttelfrost und Fieber auf die Booster-Impfung oder das lange Anstehen zurückzuführen gewesen sind, lässt sich wahrscheinlich medizinisch nicht zweifelsfrei klären.
Erfreulicher- und erstaunlicherweise zeigten die Wartenden aber ein hohes Maß an Geduld und Gelassenheit. Mancher, der die Zeit nutzte, um einen Roman zu Ende zu lesen oder ein Dutzend Sudokus zu lösen. Oder sogar in der Schlange neue Bekannte zu machen. Wemmer also in diesen Tagen gerne mal wieder unter Leute will: Vor dem Impfzentrum ist bis auf Weiteres jeden Tag Stehempfang.