Der heilige Schuman
Notiert in Brüssel
Der heilige Schuman
Von Detlef Fechtner
In Brüssel ist Ruhe angesagt. Ruhe nach dem Sturm. Für die Beamten der EU-Kommission und für die Diplomaten der Ständigen Vertretungen addierten sich die Überstunden zwischen Oktober und Weihnachten in selten gekannte Höhen, weil der Ehrgeiz groß war, in der laufenden Amtsperiode der EU-Kommission einige wichtige Dossiers zum Abschluss zu bringen. Was – Stichwort Schuldenregeln, Kapitalvorgaben oder Lieferkette – tatsächlich gelungen ist. Von Januar bis März ging es dann darum, dass die Europaabgeordneten noch das eine oder andere Gesetzesverfahren zumindest durch Ausschuss oder Plenum bringen, damit das EU-Parlament im Herbst nicht wieder bei null starten muss. Was zum Beispiel bei der Kleinanlegerstrategie oder (sehr zum Leidwesen von Sparkassen und Volksbanken) auch bei der Einlagensicherung geschafft wurde. Im April mussten die EU-Parlamentarier dann in einen letzten Abstimmungsmarathon (und haben sogar zusätzliches Personal eingestellt, damit niemand bei den Hunderten von Änderungsanträgen durcheinanderkommt). Nun, im Mai, ist deshalb erst einmal durchatmen angesagt. Zumindest für Beamte und Attachées.
Die EU-Abgeordneten sind derweil in den heimischen Wahlkreis geeilt, um an Wahlständen, auf Europafesten oder bei Podiumsdiskussionen für die eigene Wiederwahl zu werben. Wenn man sie fragt, womit sie in Bierzelten und auf Marktplätzen konfrontiert werden, dann spielen Finanzthemen nur eine Nebenrolle – ganz anders als vor fünf und vor allem vor zehn Jahren. Ab und zu eine Anfrage zum digitalen Euro („Wollt Ihr da in Brüssel wirklich das Bargeld abschaffen?“) oder die sorgenvolle Nachfrage rund um Bankeinlagen („Wollt Ihr tatsächlich unser Erspartes zur Rettung von maroden Großbanken einsetzen?“) – das war es dann aber auch. Die Brüsseler Aufregerthemen wie Payment for Order Flow oder Provisionsverbote spielen im Gespräch mit den Bürgern erwartungsgemäß keine Rolle.
Weil die Abgeordneten in den Wahlkreisen sind und EU-Kommissare wenige Wochen vor Ende ihrer Amtszeit keine Initiativen mehr starten, herrscht in Brüssel quasi eine vorsaisonale Urlaubsstimmung. Da passt es prima, dass die Europaschulen den Schülern im Mai einige Tage frei geben. Und ihre Eltern im Wonnemonat sowieso von Feier- und Brückentagen profitieren. Zumal europäische Beamte unglaublicherweise ja ohnehin einen Feiertag pro Jahr mehr haben als andere Arbeitnehmer. Weil sie alljährlich am 9. Mai blaumachen dürfen. Am 9. Mai 1950 hatte der französische Außenminister Robert Schuman eine Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl vorgeschlagen. Immerhin: Wenigstens dieses Jahr gab es endlich einmal keinen Anlass für uns Nicht-Beamten, neidisch zu sein. Denn der „Heilige Schuman“, wie der 9. Mai unter Eurokraten genannt wird, war ohnehin für alle frei. Er fiel erstmals seit Jahrzehnten auf Christi Himmelfahrt. Ätschi, bätschi!