Moskau

Der Kampf um die Zweifler

Umfragen zufolge dreht in Russland die Meinung zum Ukraine-Krieg und zum Wunsch nach Friedensverhandlungen. Der Kreml reagiert auf dieses zunehmende Problem auf seine Weise.

Der Kampf um die Zweifler

Die ganze Surrealität und Absurdität dieses Krieges bestehe ja darin, dass er im Moskauer Alltag zumindest wirtschaftlich nicht spür- und bemerkbar sei, formulierte es dieser Tage ein Bekannter in Moskau. In der Tat: Die Hauptstädter haben ihren Alltag angepasst. Ja, ab und an verschwindet irgendein Produkt aus den Regalen oder wird rar. Manchmal erscheint es auch in neuem Design wie neulich ein Liter Milch im Tetrapak quasi à la russe – ohne Aufschrift, einfach in grau-weißem Packpapier. Aber wer nicht gerade ein neues Auto braucht und mangels westlicher Modelle mit einem chinesischen vorliebnehmen muss, da China nun den Markt zu schwemmen versucht, der könnte sich durchaus der Illusion hingeben, das Land befinde sich nicht im Krieg – ja nicht einmal in einer militärischen Spezialoperation, wie das in der heimischen Propaganda umschrieben wird.

Emotionell freilich sieht die Sache anders aus. Gut einen Monat nach der Ausrufung der Teilmobilmachung bleibt die Unruhe bei den Menschen groß. Es war ja die Mobilmachung, die den Krieg in die Wohnzimmer getragen hat, weil so gut wie jeder jemanden persönlich oder über Bekannte und Freunde kennt, der eingezogen worden ist oder aus Angst davor das Land verlassen hat. Der jüngsten Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Levada zufolge sind 58% der Russen „sehr beunruhigt“ aufgrund der Ereignisse in der Ukraine und 30% „eher beunruhigt“.

Die Beunruhigung steigt mit jedem Alterssegment an. Das ist insofern absurd, als es andererseits die Älteren sind, die das Vorgehen der russischen Armee in der Ukraine unterstützen. Konkret tun das in der Gruppe über 55 ganze 75% („eindeutig ja“ und „eher ja“ zusammengenommen). Bei den 18- bis 24-Jährigen sagen 24% „eindeutig ja“ und 34% „eher ja“. Die Teilmobilisierung heißen deutlich weniger gut, der Unterschied nach Altersgruppen aber ist ähnlich.

Dieses Bild spiegelt sich auch bei der Antwort auf die Frage, ob Friedensverhandlungen begonnen werden sollten: Hier sind 68% der 18- bis 24-Jährigen dafür und immerhin 42% der Menschen über 55 Jahre. Bedeutsam ist hier der Trend über die gesamte Gesellschaft hinweg, dass nämlich den zweiten Monat in Folge die Zahl der Befürworter von Friedensverhandlungen leicht steigt. Waren im August Umfragen zufolge noch 48% der Russinnen und Russen für eine Fortsetzung der Kriegshandlungen, so im September 44% und im Oktober 36%. Und sprachen sich im August nur 44% für den Beginn von Friedensverhandlungen aus, so im September 48% und im Oktober bereits 57%.

Es scheint Bewegung in die Zweifler zu kommen – diejenigen, die bisher zwar keine starken Verfechter des Krieges, aber eben auch keine strikten Gegner waren. Auch insofern wird der Krieg für Kremlchef Wladimir Putin und seine Mannschaft im Inland zum Problem. Und auch insofern dürften diejenigen Beobachter recht haben, die hinter Putins jetzigem Eskalationsverhalten einen immer lauteren Aufruf zu Verhandlungen an den Westen und an die Ukraine sehen.

Allemal bemerkenswert und nicht verwunderlich, dass in dieser Phase, in der die Zweifler wach zu werden beginnen, die staatlichen Attacken gegen jene breitenwirksamen Blogger und Influencer an Fahrt gewinnen, die im Unterschied zu manchen Medien zwar nicht fundamentaloppositionell ausgerichtet sind, aber doch den Krieg nicht unterstützen. Die 40-jährige Xenia Sobtschak etwa, Tochter des einstigen Bürgermeisters von St. Petersburg, Anatoli Sobtschak, der wohlgemerkt Putins politischer Ziehvater war. Sobtschaks Mutter ist gar langjährige Senatorin im Föderationsrat. Tochter Xenia selbst hat als bunter Szenevogel über die Jahre alles probiert, was ihrer Lebenslust und ihrer Karriere guttat. Wiederholt wurde sie als russische Paris Hilton bezeichnet. Vor wenigen Tagen nun ist sie aus Russland geflohen, weil die Attacken der Behörden zugenommen hatten.

Und soeben wurde auch Maxim Kaz zur Fahndung ausgeschrieben. Dass gegen ihn wegen der Verbreitung angeblich falscher Informationen über die russische Armee ermittelt wird, hatte er vor ein paar Monaten zufällig erfahren, wie er mitteilte. Der 37-jährige Kaz ist so ziemlich der erfolgreichste Blogger in Russland.

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