Deutschland braucht eine Strategie
Die Corona-Hilfen, Fluthilfen und die Debatte um die Entwicklung unseres Altersvorsorgesystems haben viele Menschen in Deutschland unmittelbar betroffen und Besorgnisse ausgelöst. Wie steht es um die Finanzierbarkeit der damit verbundenen Belastungen und Schulden – nicht nur auf der staatlichen, sondern insbesondere auf der privaten Ebene?
Finanzbildung betrifft vor allem auch die Altersvorsorge. Daher ist es besonders in Zeiten von Niedrigzinsen wichtig, sich mit Finanzthemen auseinanderzusetzen, um neben der gesetzlichen und betrieblichen Altersvorsorge auch mit privaten Anlagen so weit wie möglich eine positive Rendite erzielen zu können. Die Situation in Deutschland ist derzeit alles andere als optimal: Daten der OECD aus dem Jahr 2020 zufolge behalten in Deutschland – insofern unter dem Durchschnitt der OECD-Mitgliedstaaten – nur 53,9% der Erwachsenen ihre Finanzen genau im Auge und haben einen Überblick über ihre Geldströme. Noch gravierender ist, dass nach dem Schuldenatlas 2020 für Deutschland eine Überschuldungsquote von rund 9,87% gemessen wurde.
Fehlendes Grundlagenwissen
Ein Blick auf die Altersstruktur der überschuldeten Personen zeigt, dass die Gruppe der 30- bis 39-Jährigen die höchste Verschuldung aufweist. Fast jeder Fünfte dieser Altersklasse ist als überschuldet anzusehen oder hat zumindest Liquiditätsprobleme. Die Überschuldungsquote bei jungen Erwachsenen (unter 30 Jahre) beträgt 9,63%. Nach einer repräsentativen Studie der Stiftung Finanztip zum alltäglichen Finanzwissen weiß zum Beispiel knapp die Hälfte der Menschen in Deutschland nicht einmal, dass auf einem Girokonto ab dem ersten Cent im Minus sofort Zinsen anfallen.
Vorreiter Österreich
Die notwendige Kompetenz, um am Wirtschaftsleben erfolgreich teilnehmen zu können, wird nicht über den klassischen Bildungskanon vermittelt. Die Finanzwelt ist komplex und hat eine eigene Sprache. Unser Ziel muss sein, dass Menschen diese verstehen lernen und besser gerüstet sind, Entscheidungen rund um ihre Finanzen zu treffen. Die OECD hat Empfehlungen zur finanziellen Allgemeinbildung veröffentlicht, die Regierungen, Behörden und relevante Interessengruppen bei ihren Maßnahmen zur finanziellen Allgemeinbildung unterstützen sollen.
Einige Länder haben bereits mit der Umsetzung begonnen. So hat Österreich gerade seine Strategie für Finanzbildung vorgestellt, um seine Bürger finanzfitter zu machen. Sie ist auf fünf Jahre angelegt und hat vier grundlegende Ziele: Erstens sollen frühzeitig Grundlagen vermittelt werden, die zu soliden Entscheidungen in Finanzdingen führen und Überschuldung verhindern. Zweitens soll eine verantwortungsvolle Finanzplanung gefördert werden. Drittens soll der Zugang zu hochwertiger Finanzbildung für alle Bürgerinnen und Bürger ermöglicht, und diese sollen für deren Bedeutung sensibilisiert werden. Viertens sollen bestehende Initiativen zur Finanzbildung durch Dialog, Koordinierung und Evaluierung wirksamer gemacht werden. Andere Länder haben ebenfalls bereits eine nationale Strategie zur Verbesserung von finanzieller Allgemeinbildung entwickelt und umgesetzt.
Auch Deutschland braucht eine Finanzbildungsstrategie, damit Kinder und Jugendliche, junge Frauen und Männer, aber auch berufstätige Erwachsene und Privatanleger ebenso wie Kleinunternehmer vom Wirtschaftserfolg der kommenden Jahrzehnte mitprofitieren können. Eine deutschlandweite Finanzbildungsstrategie muss die Bürger befähigen, sich sowohl kritisch mit Wirtschafts- und Finanzfragen auseinanderzusetzen als auch eigenständig am Wirtschaftsleben teilzunehmen. Die Bürger sollten finanzielle Entscheidungen verantwortungsbewusst, selbstständig und informiert treffen und Chancen und Risiken selbst einschätzen können.
Die Schulen sind gefragt
Hier sind insbesondere die Schulen gefragt. Finanzwirtschaftliche Kenntnisse sind nicht erst und nur in Spezialstudiengängen der Betriebswirtschaftslehre an Fachhochschulen und Universitäten zu vermitteln. Sondern die Grundlagen hierfür gehören in den Fächerkanon aller weiterführenden Schulzweige, der Hauptschulen, der Realschulen, der Gymnasien und der Berufsschulen. Jeder Jugendliche sollte bei seinem Schulabschluss nicht nur wissen, was ein Bankkonto und ein Darlehen sind, wie Online-Banking geht und Kreditkarten funktionieren, was eine Bürgschaft und eine Grundschuld bedeuten, und welche Versicherungen wofür genommen werden können. Zur Lebensbefähigung und Bildung gehört daneben auch das Basiswissen über die Alterssicherung, Kapitalanlageformen und Altersvorsorgeleistungen, worauf hier zu achten ist, und wie man entsprechende Angebote vergleicht. Neben den inzwischen allseits erkannten Defiziten der Kenntnisse und Angebote im Bereich der Digitalisierung besteht wohl im Mangel an finanzwirtschaftlicher Bildung die zweite große Lücke in den Lehrplänen unserer Schulen.
Signal an die Bundesländer
Es ist dringend notwendig, dass auch in diesem Punkt in Deutschland endlich angepackt wird. Derzeit werden in Berlin Koalitionsverhandlungen geführt und die Weichen für die politische Entwicklung der nächsten Jahre gestellt. Die schulische Ausbildung liegt zwar in den Händen der Bundesländer. Aber die Koalitionäre in Berlin könnten ein Signal an die Bundesländer geben und nicht nur Mittel für die dringend notwendige Digitalisierung unserer Schulen, sondern auch für die gleichfalls dringende Finanzbildung zur Verfügung stellen.
Dr. Julia von Buttlar ist stellvertretende Referatsleiterin bei der BaFin. Der Beitrag gibt die persönliche Auffassung der Autorin wieder.
In dieser Rubrik veröffentlichen wir Kommentare von führenden Vertretern aus der Wirtschafts- und Finanzwelt, aus Politik und Wissenschaft.