Die brisante Schräglage der US-Wirtschaft
Von Peter De Thier, Washington
Die US-Wirtschaft steht unter Dampf und der Arbeitsmarkt erholt sich mit hohem Tempo. Dadurch gerät ein anderes, brisantes Thema aus dem Blick: Fast niemand spricht über das steigende Defizit im Außenhandel, das in diesem Sommer den höchsten je gemessenen Stand erreicht hat. Dabei sind die Folgen nicht zu unterschätzen. Denn die Importpreise steigen in schwindelerregende Höhen. Auch sieht sich US-Präsident Joe Biden darin bestätigt, an dem protektionistischen Kurs seines Vorgängers Donald Trump, den er zuvor kritisiert hatte, vorerst festzuhalten.
Im vergangenen Jahr verkauften amerikanische Unternehmen im Ausland Produkte im Wert von 1,4 Bill. Dollar, angeführt von Computern, Maschinen, Ölprodukten, medizinischer Ausrüstung und Flugzeugen. Stellt man den exportierten Gütern die Einfuhren gegenüber, erreichte der Fehlbetrag im Außenhandel im Juni dieses Jahres 93,2 Mrd. Dollar. Ein so hohes Defizit hatte das Handelsministerium noch nie gemeldet. Der Passivsaldo ist fast doppelt so hoch wie Ende 2019, also kurz vor Ausbruch der Corona-Pandemie. Berücksichtigt man den traditionellen Überschuss bei Dienstleistungen, dann betrug das Defizit immer noch knapp 76 Mrd. Dollar, ebenfalls ein neuer Rekord. Die Zahlen für Juli wird die Regierung in einigen Tagen veröffentlichen, und die meisten Experten rechnen mit neuen Höchstständen.
Zurückführen lässt sich der steile Anstieg in erster Linie auf den kräftigen Konjunkturaufschwung. Die US-Wirtschaft erholt sich wesentlich schneller von den Folgen der Corona-Pandemie als die übrigen Industrieländer. Die US-Notenbank Federal Reserve hat ihre Prognosen mehrmals nach oben geschraubt und rechnet nun für 2021 mit einer Wachstumsrate von 7,0%. Auch ist die Arbeitslosenquote im Juli bei kräftigem Stellenwachstum um einen halben Prozentpunkt auf 5,4% gesunken. Das ist zwar noch ein ganzes Stück entfernt vom Vorkrisenniveau von 3,5%, das Notenbankchef Jerome Powell erreichen will und als Vollbeschäftigung ansieht. Doch ist der Aufschwung so robust, dass die zunehmende Schräglage im Außenhandel kaum ins Auge sticht.
Preisdruck nimmt zu
In einer Wirtschaft, deren Bruttoinlandsprodukt (BIP) zu fast 70% aus der privaten Konsumnachfrage besteht, hat das kräftige Wachstum die Importnachfrage angekurbelt. Zugleich haben die boomende Nachfrage, gepaart mit Störungen in Lieferketten und daraus resultierenden Produktionsengpässen, den Preisdruck verstärkt. So stiegen die Einfuhrpreise im Juli im Vorjahresvergleich um mehr als 10%, wobei sich Benzin sogar um zwei Drittel verteuerte.
Wegen des Nachholbedarfs, den US-Konsumenten nach den langen Beschränkungen im Zuge der Pandemie haben, sind sie bereit, die höheren Preise zu zahlen, sei es für Computer, Autos, Benzin, Möbel oder pharmazeutische Produkte, die zu den wichtigsten Einfuhren zählen. Erst während der vergangenen zwei Monate schien sich die hohe Inflation in der Verbraucherstimmung niederzuschlagen, die sich im August sogar deutlich eingetrübt hat.
Da die deutliche Verteuerung bei Einfuhren eine wichtige Komponente des PCE-Preisindex ist, der auf 4,0% gestiegen ist, schlägt der Importanstieg auch auf die Geldpolitik durch. Schließlich hat die höhere Inflation während der vergangenen Monate den Druck auf die Notenbank verstärkt, allmählich einen Schlussstrich unter die ultralockere Geldpolitik zu ziehen, welche die Fed seit März vergangenen Jahres mit dem Nullzins und Anleihekäufen von 120 Mrd. pro Monat betreibt.
Die gestiegenen Importe und das ausufernde Defizit könnten aber darüber hinaus politische Wirkung entfalten. Denn auch wenn sie es nicht so deutlich aussprechen, wie Trump dies tat, ist es in Washington ein offenes Geheimnis, dass das ausufernde Defizit Biden und seinen Wirtschaftsberatern ein Dorn im Auge ist. Daher ist es kaum verwunderlich, dass der Präsident in der Handels- und Investitionspolitik eine rigide „Buy American“-Doktrin verfolgt, die der heimischen Industrie helfen soll.
Diese wiederum ist das Ergebnis eines Arbeitspapiers, das sein Sicherheitsberater Jake Sullivan veröffentlicht hat. Darin argumentiert Sullivan, dass Globalisierung das Wohlstandsgefälle vergrößert, der US-Industrie geschadet habe und daher die Handelspolitik auf heimische Interessen ausgerichtet sein soll. Kein Wunder also, dass für die milliardenschweren Infrastrukturinvestitionen, die demnächst in Gesetzesform gegossen werden könnten, fast ausschließlich Teile und Produkte aus den USA verwendet werden sollen.
Auch hält der Präsident an jenen Einfuhrzöllen gegen Stahl und Aluminium fest, mit denen Trump Produkte aus Europa und anderen Ländern überzogen hatte. Über eine Abschaffung oder Senkung der Abgaben hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel vergangenen Monat mit Biden bei ihrem Abschiedsbesuch in Washington reden wollen, stieß beim Präsidenten aber auf taube Ohren. Zwar will Biden mit den Europäern eine geschlossene Front bilden, um China zur Öffnung seiner Märkte zu zwingen und dem Diebstahl geistigen Eigentums einen Riegel vorzuschieben. Einer erfolgreichen Kooperation könnte neben den Zöllen aber auch das europäisch-chinesische Investitionsabkommen im Wege stehen, welches das Weiße Haus ausgesprochen misstrauisch beäugt.