Moskau

Die Gleichzeitigkeit des Widersprüchlichen

In Russland werden die Männerunterhosen knapp, und auch sonst zeigen sich immer mehr Anzeichen des inzwischen mehr als zehn Monate andauernden Kriegs. Auf Luxus-Essen an Weihnachten wollen die Russen dennoch nicht verzichten.

Die Gleichzeitigkeit des Widersprüchlichen

Auch wenn die Situation des sinnlosen Ukraine-Krieges – der, man kann es nicht oft genug wiederholen, neben dem massenhaften Leid in der Ukraine auch in Russland selbst Leichenberge und eine langfristige Zerstörung gewachsener Sicherheiten und Grundlagen bringt – schwer bedrückend ist, haben einzelne Folgen davon zwischendurch auch komischen Charakter. Mit Zorn und Irritation habe er beim Gang durch drei Modegeschäfte in Moskau neulich festgestellt, dass es männliche Unterhosen nur noch in „M“- und „S“-Größe gebe, erzählte dieser Tage ein alter Bekannter. Offenbar seien die größeren Modelle für die Soldaten aussortiert und reserviert worden, mutmaßte der Mittsechziger. Ein weiteres Mal spüre man die Ohnmacht gegenüber allem, das vor sich gehe. Das Rendezvous mit der Realität des Krieges und seiner Folgen kommt in Russland nur in Raten. Über weite Strecken bleibt die Realität auch über zehn Monate nach Kriegsbeginn ausgeblendet, so dass man meinen könnte, in einer heilen Parallelwelt zum Krieg zu leben.

Nehmen wir etwa die alte Tradition, dass die Russen am Ende eines Jahres noch einmal so richtig auf den Putz hauen und keine Ausgaben scheuen, weil ihnen die Feiertage, die mit Weihnachtsbaum, Geschenken und auch mit teuren Restaurantbesuchen am 31. Dezember begannen, einfach zu wichtig sind. So ist es nicht weiter verwunderlich, dass auch für diesen Jahreswechsel eifrig Tische gebucht wurden. Verwunderlich ist nur, dass die Nachfrage nach ihnen im aktuell tief verschneiten Moskau plötzlich sogar höher war als ein Jahr zuvor, so dass im Premiumsegment bereits Mitte Dezember alles ausgebucht war und in den anderen Segmenten zu 70 bis 90%, wie die Daten der Moskauer Branchenagentur „Appetitmarketing“ zeigten. Kann das ins Bild eines Landes passen, das sich in einer Wirtschaftskrise, einem Krieg und unter westlichen Sanktionen befindet?

Die Gleichzeitigkeit des Widersprüchlichen ist aktuell wahrscheinlich der treffendste Befund für den Zustand, in dem sich Russlands Bürger befinden und der eine Zerreißprobe für die Gesellschaft darstellt, wie sie so seit Jahrzehnten nicht mehr bestanden hat: Zwischen Stadt und Land, zwischen Jung und Alt, zwischen denen, die in Russland bleiben, und jenen, die temporär oder für immer weggegangen sind. Sollbruchstellen überall.

Zunehmend liegen ob der großen Ungewissheiten die Nerven blank. Die Sprache verroht. Sie wisse gar nicht, mit welchen Worten sie das Jahr 2022 zusammenfassen solle, sagte eine Moskauerin dieser Tage: „Das Jahr hat die nicht normierte Lexik (so bezeichnet man in Russland das Fluchen auf unterstem Niveau) zur Norm gemacht“. Möge das kommende Jahr „ganz einfach weniger beschissen“ werden, formulierte ein anderer Bekannter seine Wünsche zum Jahreswechsel, nachdem er vorher erzählt hatte, dass weitere Leute aus seinem Freundeskreis nun ausgewandert seien – in dem Fall nach Israel. Dass er mit seiner Familie noch in Moskau lebe, sei seinem Gefühl nach die Ausnahme von der Regel in seinem Umkreis. „Der letzte macht das Licht aus.“

Bis dahin ist es halt noch lange. Denn das Faktum, dass die russische Wirtschaft sich vorerst weitaus besser gehalten hat, als von allen Seiten prognostiziert worden war, und das Bruttoinlandsprodukt 2022 gerade einmal um 3,4% gefallen sein dürfte, wie der Internationale Währungsfonds vermutet, prolongiert Ignoranz und Leichtsinnigkeit.

Dennoch kommt auch das offizielle Russland immer weniger umhin, das Schönreden aufzugeben und schlechte Nachrichten, sprich gewisse Einschränkungen zu verkünden. Der Engpass bei Herrenunterwäsche ist zwar noch kein Thema für das Fernsehen. Aber der Sprecher des Innenministeriums musste neulich vor laufenden Kameras mitteilen, dass die Polizei dieses Jahr keine Neuwagen erhalten und das dafür vorgesehene Budget von umgerechnet 66 Mill. Euro anderweitig verwendet werde. Aus dem Ausland nämlich würden die Fahrzeuge nicht geliefert, und die russischen Hersteller hätten Probleme mit der Zulieferung von Bestandteilen. Und auch das Ausstellen von Reisepässen werde nun länger auf sich warten lassen, sagte er wenige Tage später: Es fehle ganz einfach an Druckern, Russland produziere selbst keine.