Moskau

Die Parias sind verdammt innovativ

Manch einer könnte sagen, dass den Russen schon recht ge­schieht, wenn sie nun weltweit als Parias gelten. Man kann und muss freilich aber auch sagen, dass wohl die meisten, die in den Westen fahren oder fahren möchten, zu Hause mit dem Putin-Regime wenig am Hut haben.

Die Parias sind verdammt innovativ

Wenn Russen heute ins westliche Ausland reisen, dann haben sie es auch nicht ganz leicht. Gewiss, alles nichts im Vergleich zu dem von Russland verursachten Leid der Ukrainer – wobei allein schon der Vergleich abstrus ist. Und überhaupt könnte manch einer sagen, dass den Russen schon recht ge­schieht, wenn sie nun weltweit als Parias gelten. Man kann und muss freilich aber auch sagen, dass wohl die meisten, die in den Westen fahren oder fahren möchten, zu Hause mit dem Putin-Regime wenig am Hut haben. Nicht zufällig verließen seit Kriegsbeginn Hunderttausende das Land, und zwar meist gut ausgebildete junge Leute, von denen der männliche Anteil fürchtete, in den Krieg geschickt zu werden. Aufgrund einfacher Einreiseregeln und geringer Lebenshaltungskosten gingen sie vorwiegend in die Türkei, nach Georgien oder Armenien.

Wie überhaupt der in Umfragen zutage geförderte Hurrapatriotismus der russischen Bevölkerung ei­ner gewissen Relativierung bedarf. Denn erstens wagen es unter den jetzigen Umständen bei weitem nicht alle, eine nicht konforme Meinung zu äußern. Und zweitens sind tatsächlich die meisten desorientiert, was sie angesichts der massiven Propaganda überhaupt glauben und denken sollten. Darüber berichtete kürzlich ein ziemlich aufgeklärter orthodoxer Priester aus Moskau in einem Interview: Die Menschen, die wegen Rat zu ihm kämen – und zwar aus allen Altersschichten und mit unterschiedlichster Weltanschauung –, würden nur noch schlecht schlafen, hätten eine innere Unruhe und obendrein kaum jemanden zum Reden, weil das Gesprächsklima vergiftet sei.

Was nun die Reisen in den Westen betrifft – im Übrigen war bislang nichts davon zu hören, dass immer mehr Russen nach China fahren, das Russland in seinem Konflikt mit dem Westen ja den Rücken stärkt –, so greifen manche Russen inzwischen auch zu ihren Tricks, um dort nicht aufzufallen. Ein zweiter Reisepass, ausgestellt etwa in Weißrussland oder einem anderen Nachbarstaat, ist eine der Methoden, um im Westen nicht als Russe aufzufallen. Eine andere ist angeblich, sich überhaupt eine zweite Identität mit einem Zweitpass zu beschaffen.

Viele sind es sicher nicht. Und es ist ja nur ein Beispiel für abstruse Entwicklungen in einer verworrenen Situation. Manche Russen haben ihre Familie längst im Westen wohnen, gehen aber in Russland weiter ihrer Arbeit nach, weil sie auch keine anderen Optionen ha­­ben. Und überhaupt ist es eine schwierige Frage, wer von den Dutzenden Millionen arbeitsfähiger Russen mit seiner Arbeit eigentlich als Profiteur des Putin-Systems gilt und wer nicht. Heikles Terrain, zugegeben. Und letztlich eine der großen Fragen, die die russische Gesellschaft früher oder später selbst beantworten muss.

Warum wir die Frage hier streifen? Weil es gerade von Seiten der baltischen Staaten Vorschläge gibt, seitens der EU die Ausgabe von Schengenvisa an Russen generell einzustellen. Die EU ist hier zu Recht zurückhaltend, denn in den vergangenen 30 Jahren war es in vielem der Kontakt mit dem Westen, der geholfen hat, dass sich in Russland selbst eine Mittelschicht entwickelt hat, die für eine andere Entwicklung des Landes steht, auch wenn sie nach wie vor eine Minderheit von geschätzt 20% der Bevölkerung darstellt.

Flexibel zu sein hat sie jedenfalls gelernt, wie das Beispiel eines alten Bekannten zeigt, der sich zu Kriegsbeginn nach Georgien abgesetzt hat. Nun hat sich der knapp 30-Jährige, dessen Namen wir hier nicht nennen können, mit zwei Georgiern zusammengetan und ist nach Istanbul gezogen, wo die drei ein kleines Restaurant eröffnet haben.

Erzählungen von Unternehmensgründungen gibt es zuhauf. Was Wunder, gingen und gehen doch die Innovativsten weg. Andrej Movchan, russlandstämmiger Chef der Investmentgesellschaft Movchan’s Group in London, hat in einer hauseigenen Studie eruiert, dass „allein dieses Jahr wohl 500000 Fachkräfte, davon 100000 IT-Fachleute, das Land verlassen“, wie er kürzlich der Börsen-Zeitung erzählte.

Diese Leute generell nicht mehr nach Europa zu lassen, erscheint als Idee nicht sehr klug. Und sie angesichts des horrenden Fachkräftemangels nicht überhaupt aktiver und gezielter einzuladen, ist fast schon fahrlässig. Zumal ein Teil von ihnen ja auch will – und sei es mit einem weißrussischen Pass.

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