Bundestagswahl 2021

Die Qual nach der Wahl

Fast sechs Monate dauerten die Koalitionsverhandlungen nach der Bundestagswahl 2017. Investoren müssen sich erneut auf Unsicherheit einstellen.

Die Qual nach der Wahl

Den 17. März 2022 haben sich Beobachter des Geschehens im Berliner Regierungsviertel schon im Kalender eingetragen. Das Datum markiert Tag Nummer 172 nach der Bundestagswahl an diesem Wochenende. Sollten die Verhandlungen über ein Regierungsbündnis bis dahin zu keinem Abschluss gekommen sein, würde das Rekord bedeuten. Noch nie haben Koalitionsverhandlungen auf Bundesebene hierzulande länger gedauert. Seit 1990 benötigten die Parteien im Mittel 71 Tage, um ein neues Bündnis zu formen. Nur die Koalitionsverhandlungen nach dem Wahltermin 2013 und die Gespräche nach der Wahlentscheidung 2017 dauerten länger. Die Beratungen nach der Wahl vor vier Jahren halten den Rekord, weil die Verhandlungen über ein Bündnis aus Union, FDP und Grünen letztlich scheiterten und es danach noch geraume Zeit dauerte, die SPD wieder für eine große Koalition zu gewinnen.

Geht man nach den jüngsten Umfragen, könnte die Qual nach der Wahl für Investoren, die kein Ergebnis mehr fürchten als lang anhaltende Unsicherheit, erheblich werden. Denn wenige Tage vor dem Wahltermin sieht es danach aus, als könnte es am Ende nur die Möglichkeit für ein Dreierbündnis geben. Allein die SPD, die zu Beginn des Sommers weit abgeschlagen auf Platz 3 mit ihrem Spitzenkandidaten Olaf Scholz in den Wahlkampf gestartet war, kann sich derzeit Chancen ausreichen, an die 25% heranzureichen. Der Union droht mit Armin Laschet an der Spitze trotz jüngster Aufholtendenzen mit etwas mehr als 20% ein Debakel zum Ende der Ära von Angela Merkel. Die als aussichtsreiche Herausforderer gestarteten Grünen dürften ihr Ergebnis von 2017 mit ihrer ersten Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock zwar fast verdoppeln, am Wahlabend nach aktuellen Umfragen mit einem Ergebnis um 16% aber trotzdem betreten in die Kameras schauen. Weil es dann mit großer Wahrscheinlichkeit keine Mehrheit für das zuletzt aktiv beworbene rot-grüne Bündnis geben wird – von einer zu Beginn des Sommers noch als wahrscheinlichste Konstellation angesehenen schwarz-grünen Regierung redet schon lange niemand mehr –, wird sich die FDP mit Christian Lindner wohl in der Rolle des Königsmachers wiederfinden, auch wenn ein Linksbündnis ebenfalls in Reichweite liegt.

Umfragen sind das eine, schon klar. Doch auch wenn das Wahlergebnis noch für die eine oder andere Überraschung sorgen wird, ist abzusehen, dass die seit Monaten annoncierte Richtungswahl keinen klaren Richtungsentscheid bringen wird. Der Richtungsstreit in den Verhandlungen über ein Dreierbündnis nach der Wahl wird zäh, wenn etwa SPD und Grüne ihre haushaltspolitischen Vorstellungen den Liberalen schmackhaft machen müssen, um eine Ampelkoalition ins Werk zu setzen. Die FDP wird da nur mitmachen, wenn sie das Finanzministerium und da­mit den Schlüssel zum Tresor übernimmt. Ansonsten könnte Lindner in Anlehnung an 2017 sagen, es sei besser, bei Gelb über die Ampel zu fahren, als auf grünes Licht für ein Regierungsbündnis mit der SPD zu warten.

Auch eine Neuauflage der Verhandlungen über ein Jamaika-Bündnis wird kompliziert, nicht erst seit die Grünen ausrichten ließen, die Union  in die Opposition schicken zu wollen. Gesteht die Union den Grünen aber zu, sich mit einer ambitionierten Klimaschutz-Agenda zu profilieren, und kann sie sich auch mit der FDP auf eine tragfähige Rollenverteilung im Rahmen einer weiter gefassten Modernisierungsagenda einigen, hat Jamaika durchaus Chancen.

Die Kräfteverhältnisse in den Verhandlungen hängen auch davon ab, ob ein Linksbündnis möglich ist. Olaf Scholz schließt eine rot-grün-rote Koalition nicht aus – er könnte sonst gleich dazu aufrufen, die Zweitstimme der FDP zu geben. Die Hürden auf dem Weg zu einer Koalition mit der Linken bleiben aber nicht nur in der Außenpolitik hoch, auch wenn die Union mit dem rot-grün-roten Gespenst versucht, die eigene Klientel doch noch für den ungeliebten Laschet zu mobi­lisieren. Selbst eine „große Koalition 2.0“ unter Einbezug der FDP in einem Deutschland-Bündnis oder der Grünen in einer Kenia-Koalition und eine Minderheitsre­gierung von SPD und Grünen oder Union mit FDP gilt bei Wahlbeobachtern nicht als ausgeschlossen.

Ein neues Regierungsbündnis dürfte einen langen Anlauf nehmen müssen, bevor es die großen Aufgaben angeht, die auf der Agen­­­da stehen. Im politischen Kalender von Inves­toren wird da bereits die Präsidentschafts­wahl in Frankreich im Frühjahr 2022 in den Vordergrund rücken.

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