Die Siebenschläfer von Whitehall
Jacob Rees-Mogg hat seit dem EU-Austritt Großbritanniens schon lange keine große internationale Aufmerksamkeit erfahren. In Großbritannien ist der Brexiteer, dem nachgesagt wird, er vertrete im Unterhaus das 18. Jahrhundert, immer wieder für eine Schlagzeile gut. Er ist in der Regierung von Boris Johnson unter anderem dafür zuständig, dem öffentlichen Dienst Beine zu machen. Seit Ausbruch der Pandemie befindet sich das Beamtenheer weitgehend im Homeoffice – ein Zustand, den Vertreter der Gewerkschaften gerne so lange wie möglich beibehalten würden. Und so war nicht damit zu rechnen, dass sich der etwas aus der Zeit gefallene Politiker, dessen Seitenscheitel dafür stets korrekt sitzt, bei vielen Staatsdienern beliebt machen würde, als er persönlich im Regierungsviertel Whitehall nachsah, wer überhaupt noch da ist.
Nach einem Tip von einem befreundeten Regierungsmitglied habe er ein Büro besucht, dessen Mitarbeiter ihm unterstellt sind, berichtet Rees-Mogg in einem Gastbeitrag für die „Mail on Sunday“. In einem Raum, der Dutzenden Platz bieten würde, habe sich keine Menschenseele aufgehalten. An den Wänden seien Aushänge vom März 2020. Der erzkatholische Politiker zieht darin die Parallele zur Legende von den sieben Schläfern von Ephesus, die auf der Flucht vor Glaubensverfolgung in einer Höhle Schutz suchten und dort in einen 200 Jahre dauernden Schlaf verfielen. Es habe in der Behörde so ausgesehen, als wären nur noch Reinigungskräfte und das Sicherheitspersonal dort tätig.
Auf leeren Schreibtischen hinterließ er die Notiz: „Schade, dass Sie nicht da waren, als ich vorbeigekommen bin“, verbunden mit dem Wunsch, dass man sich hoffentlich recht bald wiedersehen werde – ein Wink mit dem Zaunpfahl, der prompt für einen Aufschrei in den sozialen Medien sorgte. Das sei schlechter Führungsstil, wurde dort angeprangert, wo doch erwiesen sei, dass Mitarbeiter von zu Hause aus mindestens ebenso produktiv seien wie am Schreibtisch im Büro. Das Vorgehen von Rees-Mogg sei nicht zeitgemäß, habe sich die Arbeitswelt durch die Pandemie doch nachhaltig zum Besseren verändert. Er wolle einfach nur, wie ein Patriarch im 18. Jahrhundert, sein Gesinde im Blick behalten.
Dabei spricht sich der Staatssekretär gar nicht gegen hybride Arbeitsmodelle aus. Er lobt die Mitarbeiter der Steuerbehörde HMRC, die während der Pandemie ein Kurzarbeitssystem zum Schutz von Arbeitsplätzen managten, und die „unbesungenen Helden“ des Arbeitsministeriums, die dafür sorgten, dass Bedürftige Sozialhilfe erhielten. Ihm geht es um das Ausmaß, das die Abwesenheit vom Arbeitsplatz lange nach dem Ende des Lockdowns im öffentlichen Dienst noch hat. Es sei ein schlechter Deal für die Steuerzahler, an teuren Immobilien festzuhalten, die mehr oder weniger leer stünden. Angeblich wandte er sich schriftlich mit der Frage an führende Beamte der Betrugsbekämpfungsbehörde SFO (Senior Fraud Office), wann sie ihr Büro schließen wollten, wo es doch offensichtlich nicht benötigt werde. Zudem müssen aus seiner Sicht viele Stellen nicht in der Hauptstadt angesiedelt bleiben, wenn ihre Inhaber nicht am Arbeitsplatz erscheinen.
Elementare Dienstleistungen wie das Ausstellen von Pässen und Führerscheinen sind ins Stocken geraten. Dabei zählt der öffentliche Dienst so viele Mitarbeiter wie seit vielen Jahren nicht. Johnson drohte bereits mit der Privatisierung des Passport Office und der für Führerscheine zuständigen DVLA, einer der größten Arbeitgeber in Wales. Unvergessen sind auch die Aussagen des Whistleblowers Raphael Marshall, der im Außenministerium einmal als Einziger am Platz war, als nach dem Fall von Kabul zahllose E-Mails von verzweifelten afghanischen Mitarbeitern der britischen Truppen und Hilfsorganisationen eingingen. Für gewöhnlich hätten sich im Sommer vergangenen Jahres mehr als 5 000 ungelesene Mails mit Betreffzeilen wie „Bitte rettet meine Kinder“ im Posteingang befunden. Marshall zufolge wurde dennoch nicht erwartet, dass Mitarbeiter des Ministeriums Überstunden leisten. Vielmehr sei deren „Work-Life Balance“ priorisiert worden. Rees-Mogg wird sich bei diesem Thema – weit über die konservative Parteibasis hinaus – über mangelnde Unterstützung nicht beklagen können.