Die Unbarmherzigkeit des Wasserspinats
„Tian a, zenme keneng?“ Gütiger Himmel, wie kann das sein, entfährt es der Kundin. Die durchaus stämmig gebaute Dame scheint plötzlich weiche Knie bekommen zu haben. Sie hält sich theatralisch an der Ladentheke fest und blickt hilfesuchend um sich. Solidarischer Beistand ist rasch gefunden: Ein ebenfalls älterer Herr baut sich nun vor der Theke auf, um mit barschem Ton und im Schanghai-Dialekt die Verkäuferin aufzufordern, bitte noch einmal abzuwiegen und einen „vernünftigeren“ Preis zu ermitteln. Ein vergebliches Unterfangen. Genau das nämlich scheint es an den Gemüseständen im „Cai Chang“ – den für China typischen nachbarschaftlichen Kleinmarkthallen – nicht mehr zu geben. Was ist denn heute noch vernünftig, stöhnt die Verkäuferin, verdreht die Augen, wiegt noch einmal den Beutel mit dem Wasserspinat ab, um letztlich wieder den exakt gleichen unverschämt hohen Preis draufzukleben.
Die Dame mit den weichen Knien wendet sich dem mittlerweile gebildeten Grüppchen neugierigen Publikums zu, hält die Tüte hoch und ruft: „Da könnt ihr es sehen, ein lächerliches Pfund Wasserspinat kostet jetzt 11 Yuan (1,50 Euro)!“ Und dann kommt der entscheidende Satz: „Muss ich eine Bank überfallen, um meiner Familie was Gesundes zu kochen?“ Eine rhetorische Frage gepaart mit einem markigen Statement zur Conditio humana des von Lebensmittelteuerung geschundenen chinesischen Normalverbrauchers. Das trifft auf zustimmendes Raunen und eifriges Kopfnicken. Und mit diesem kleinen Triumph im Rücken marschiert die Dame mit wiedergewonnener Festigkeit im Schritt und überteuertem Gemüse im Beutel wieder hinaus.
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Gegenwärtig scheint das sogenannte Inflationsgespenst an vielen Orten auf der Welt die Konsumentenseele zu quälen, wobei die jeweiligen Schmerzgrenzen sehr subjektiv ausfallen. In den USA beispielsweise starrt Joe Normalverbraucher derzeit entgeistert auf die Zapfsäulenanzeige, weil der Benzinpreis in Kalifornien sich immer näher auf die Horrormarke von 5 Dollar pro Gallone zubewegt und im erdölreichen Texas erstmals über 3 Dollar gestiegen ist. Das entspricht auf europäische Hohlmaße umgerechnet jedoch nur etwa 70 Cent bis 1,10 Euro pro Liter Superbenzin. Halten wir also fest: Was dem texanischen Pick-up-Fahrer glatt die Stiefel auszieht, würde deutsche Automobilisten Freudentänzchen an der Aral-Tanke aufführen lassen. Es kommt nicht auf die tatsächliche Höhe der Preise an, sondern darauf, wie sie sich im jeweiligen Umfeld so anfühlen.
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Schweinefleisch ist das gefühlt wichtigste chinesische Lebensmittel, das entsprechend einen sehr hohen Anteil im idealtypischen „Warenkorb“ einnimmt, den das Nationale Statistikbüro für die Berechnung des Konsumpreisindex heranzieht. Vor zwei Jahren hatte eine Schweineseuche das Angebot schwer ausgedünnt und die Preise sukzessive immer weiter anziehen lassen. Prompt wurde die Schweinezucht ein Boomsektor. Es kam – wie es bei einem Schweinezyklus kommen muss – zu einer gehörigen Angebotsschwemme, die Chinas Schweinefleischpreise in diesem Jahr in den Keller geschickt hat.
Nun könnte der chinesische Verbraucher zwar über günstiges Schweinefleisch jubeln, tut er aber nicht, weil er das verbilligte Kotelett als Maßstab für andere Lebensmittel heranzieht, um dann prompt festzustellen, dass diese sündhaft teuer geworden sind. Bislang gab es in China noch nie eine Situation, in der geläufiges Wok-Gemüse vom Wasserspinat über die Bittergurke bis zum Koriandergrün mit einem höheren Kilopreis als gewöhnliches Schweinefleisch aufwartete.
Anfang November ging der Spinatpreis auf bis zu 26 Yuan pro Kilo, während das Kilo Schweinerippchen schon für 16 Yuan zu haben war. Für Freunde einer ausgewogenen Ernährung mag sich der Wok-Inhalt unterm Strich gar nicht verteuert haben, aber es fühlt sich einfach nicht richtig an. Die Entrüstung der Schanghai-Hausfrau kann man also verstehen. Wenn Maßstäbe verrutschen, hängt das Weltbild schief. Und das hat nun mal auch seinen Preis.