Moskau

Die vielen Arten von Auswegen

Viele Russen suchen nach Auswegen aus dem vom Kreml verursachten Dilemma. Manche greifen nach ungewöhnlichen Mitteln. Und ein Oligarch regt mit seiner Kritik an Putin zum Nachdenken an.

Die vielen Arten von Auswegen

Nachdem ich kürzlich an dieser Stelle schon über die Suche vieler Russen nach Auswegen aus dem Land und aus dem vom Kreml verursachten Desaster geschrieben habe, füge ich nun eine weitere Spielart hinzu. Just mein ältester Bekannter aus dem Riesenreich hat sich nämlich dieser Tage entschlossen, seine langjährige Partnerin zu heiraten. „Entschlossen“ ist vielleicht übertrieben. Eigentlich wollten dies die beiden gar nicht. Aber die Umstände sind nun mal so, dass sie sogar Unentschlossene und Unwillige zu solchen Schritten veranlassen. Nein zwingen.

Der Hintergrund ist der, dass mein 65-jähriger Bekannter zwei Staatsbürgerschaften hat – die russische und aufgrund eines Elternteils auch eine westliche. Und da seine Frau, die nur die russische Staatsbürgerschaft besitzt, zuletzt bei Fahrten in das nordeuropäische Land, wohin sie möglicherweise nun auch übersiedeln, ständig mit Schikanen seitens der russischen Grenzbeamten konfrontiert war, gingen sie nun eben zum Standesamt, um wenigstens diese Schikanen abzustellen.

Die Suche nach Auswegen aus der Kriegssituation hat viele Erscheinungsformen. Für manche Russen ist es die Emigration, weil sie im Inland keine Perspektive mehr für sich sehen – und auch auf Nummer sicher gehen, falls der Kreml die Repressionen weiter verschärft.

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Apropos Ausweg: Es war vor einigen Jahren. Ich flog ins georgische Tiflis mit Umstieg in Kiew. Der Weiterflug war für 20 Uhr abends geplant. Doch es stand kein Flugzeug bereit, Stunde um Stunde verging. Am Ende – es war lang nach Mitternacht – waren alle anderen Flüge abgeflogen. Nur der nach Tiflis stand noch aus, und nichts deutete darauf hin, dass es die ukrainische Airline, die zum Imperium des zweitreichsten und übel beleumundeten Oligarchen Ihor Kolomojskyi gehörte, eilig hatte. Es sah vielmehr danach aus, dass sie auf Zeit spielte, um den Flug mit einem anderen am nächsten Abend zusammenzulegen. Familien saßen mit ihren kreischenden Kindern im Ungewissen, Jugendliche mit ihren Großeltern. Alle erschöpft und gereizt.

Beizeiten aber fühlte sich ein Russe um die 65 bemüßigt, die Situation konstruktiv anzugehen – und wandte sich im Namen der ganzen Gruppe an die verängstigte junge Ukrainerin am Schalter, die stundenlang den ganzen Unmut abbekommen hatte. „Erklären Sie uns, wo das Problem liegt, das Sie uns offenbar nicht sagen dürfen – und dann machen wir es so, dass wir Ihnen helfen, einen Ausweg aus der Situation zu finden!“, sagte er.

Der Auftritt war bemerkenswert, ohne Geschrei und ohne Häme. Er rettete zwar die Situation nicht umgehend. Aber er brachte Beruhigung und vermittelte das Gefühl, dass ein Ausweg möglich sein könnte und sich jemand darum kümmert. Immerhin flogen wir etwa eine Stunde später dann weiter und kamen in der Früh in Tiflis an.

Warum ich mich jetzt – Jahre später – daran erinnere? Weil sich dieser Tage der russische Milliardär Oleg Tinkow bereits zum zweiten Mal in Sachen Ukraine-Krieg zu Wort gemeldet und ein Ende des sinnlosen Blutvergießens gefordert hat. Es gebe niemanden, der von diesem Krieg profitiere, sagte er.

„Die Generäle, aus ihrem Rausch aufgewacht, haben erkannt, dass sie eine Scheißarmee haben.“ Aber die Armee könne nicht gut sein, wenn das ganze Land im Dreck stecke, „in Günstlingswirtschaft, Speichelleckerei und Unterwürfigkeit“. Schon im Februar hatte der 54-Jährige, der seit seiner Leukämie-Erkrankung vor zwei Jahren im Ausland lebt, den Angriff als „unfassbar und sträflich“ bezeichnet. Als Reaktion hat die von ihm gegründete Tinkoff Bank, an der Tinkow noch die Sperrminorität hält, nun bekanntgegeben, sich umzubenennen, was sie angeblich unabhängig von Tinkows Kritik ohnehin plante.

Wichtiger ist freilich etwas anderes, das mich an den Vorfall auf dem Flughafen in Kiew erinnert hat – und zwar Tinkows Aufruf an den Westen, Putin eine gesichtswahrende Möglichkeit zu geben, aus dem Krieg auszusteigen. Nur so könne das „Massaker“ beendet werden, schrieb er. Ist dieser Ausweg einmal gefunden, würden vielleicht auch so manche Russen, die für ihre Emigration inzwischen sogar heiraten, wieder zurückkommen.