Unterm Strich

Die Zeitbombe in der gesetzlichen Rente

Das Rentensystem ist weder nachhaltig noch generationen­gerecht. Doch die Politik stellt sich taub. Der nächste Fall fürs Bundesverfassungsgericht?

Die Zeitbombe in der gesetzlichen Rente

Nachhaltigkeit ist ein Zauberwort. Es verleiht Glaubwürdigkeit und Akzeptanz. Und vor allem: Es ist beliebig und lässt sich als Buzzword und Label nahezu überall anheften. Umso größer die Aufregung, wenn sich etwas nachweislich nicht als nachhaltig erweist. Wie beispielsweise die deutsche Rentenpolitik und die gesetzliche Rentenversicherung. Da sich auf Basis der demografischen Entwicklung nichts so zuverlässig vorausberechnen lässt wie die Relation von Rentenbeitragszahlern und Rentenempfängern, steht bereits heute fest: In der Finanzierung des deutschen Rentensystems tickt eine Zeitbombe, die entweder die gesetzliche Rentenversicherung oder den Bundeshaushalt sprengen wird, wenn es zu keinen grundlegenden Reformen kommt. In der jetzigen Form ist das Rentensystem weder nachhaltig noch generationengerecht.

Ökonomen: Rente mit 70

Den Finger in die Wunde gelegt hatte schon im Oktober 2019 die Deutsche Bundesbank und sich damals für eine deutliche Anhebung des gesetzlichen Rentenalters auf knapp 70 Jahre ausgesprochen und dafür, das Rentenalter an die steigende Lebenserwartung zu koppeln. Den Notenbankökonomen ist von der Politik seinerzeit Lebensferne und Panikmache vorgeworfen worden. Einer Trotzreaktion gleich boxte Arbeitsminister Hubertus Heil 2020 die Grundrente durch, finanziert aus dem Bundeshaushalt. Ab Juli wird nun diese zum Jahresanfang 2021 eingeführte Aufbesserung niedriger Renten ausgezahlt. Doch ehe sich freilich die Regierungspolitiker im beginnenden Wahlkampf mit diesem und anderen Renten-Geschenken der Heil-Vorgänger Andrea Nahles (abschlagsfreie Rente mit 63) und Olaf Scholz (Rentengarantie auch bei sinkenden Löhnen) brüsten können, kommen nun schon wieder Volkswirte um die Ecke und geben den Spielverderber. Sie geißeln nicht nur die Grundrente als „Fehlkonstruktion“, wie der Ökonom Bernd Raffelhüschen, sondern prognostizieren der gesetzlichen Rentenversicherung ab 2025 „schockartig steigende Finanzierungsprobleme“, wie vor wenigen Tagen der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium.

Wollte man den Beitragssatz unter 22% halten (aktuell 18,6%) und das Sicherungsniveau bei den bis 2025 garantierten 48%, dann müsste der für die Rentenkasse erforderliche Zuschuss aus dem Bundeshaushalt von heute einem Viertel des Haushalts auf etwa die Hälfte des Staatsbudgets bis zum Jahr 2050 steigen. „Das würde den Bundeshaushalt sprengen und wäre auch mit massiven Steuererhöhungen nicht finanzierbar“, bringt der Vorsitzende des aus 39 Wissenschaftlern bestehenden Beirats und seines Zeichens Ökonomie-Professor an der LMU München, Klaus M. Schmidt, das Nachhaltigkeitsversagen der Rentenpolitiker auf den Punkt. Sein Rat: Das bis 2031 erreichte Rentenalter von 67 weiter bis zum Jahr 2042 auf 68 Jahre steigen lassen. Die Ökonomen des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) halten einen weiteren Anstieg auf 70 Jahre bis 2052 für nötig, um bei 21,4% Beitragssatz das Sicherungsniveau zu stabilisieren. Der um griffige Formulierungen nie verlegene Rentenexperte Raffelhüschen spricht folglich von der „Wahl zwischen Pest und Cholera“.

In Anbetracht solcher Aussichten ziehen die Politiker von Union, SPD und auch den Grünen die Vogel-Strauß-Politik vor: Kopf in den Sand. Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier erklärt das Renteneintrittsalter zum Nichtthema und findet, dass es bei dem von der ersten großen Koalition auf 67 Jahre festgelegten Alter bleiben solle – „das ist seit Jahren meine Meinung“. Offenkundig hat Altmaier nicht mitbekommen, dass seither mindestens vier Änderungen die damaligen Berechnungen zur Makulatur werden ließen: Erstens die Rentengarantie, wonach eine Lohnerhöhung auch die Renten erhöht, eine Lohnsenkung aber keine Rentensenkung nach sich zieht. Das wirkt sich gravierend in der Corona-Pandemie aus, wo die Löhne gesunken sind, aber die Rente im Westen unverändert bleibt und im Osten sogar weiter steigt. Zweitens die abschlagsfreie Rente mit 63, die das Lebensleistungsprinzip der Rentenversicherung aushöhlt. Drittens die Grundrente, dank der selbst Vermögende mit niedrigen Renten vom Staat alimentiert werden. Und viertens die Aussetzung des Nachhaltigkeitsfaktors bis 2025.

Jedem sein Rentner

Dieser von der Rürup-Kommission entwickelte soziodemografische Faktor hätte bewirkt, dass die Rentenbeiträge auch nach 2030 nur auf maximal 22% klettern könnten, weil die Rentenentwicklung langfristig hinter der Lohnentwicklung bleiben sollte. Aber weil nicht sein kann, was aus seiner Sicht nicht sein soll, zweifelt Arbeitsminister Heil einfach die aktuellen Berechnungen der Wissenschaftler an. So viel Wahrheit – SPD-Kanzlerkandidat Scholz: „Horrorszenarien“ – zerstört nach Heils Verständnis das Vertrauen in die gesetzliche Rente. Und er hat auch schon einen Vorschlag fürs Stopfen eventueller Löcher parat: Es müssten einfach mehr Leute in die Rentenversicherung einzahlen, nämlich auch die Selbstständigen. Denn die Rentenreform von 2018 mit den beiden „Haltelinien“ bei Beitragssatz und Sicherungsniveau fußt darauf, dass immer weniger Beitragszahler immer mehr Rentnern ein konstantes Bruttorentenniveau finanzieren, ohne mehr zu bezahlen. Wenn kein Manna vom Himmel fällt, geht das freilich nur über Steuerfinanzierung oder die Zwangsrekrutierung neuer Gruppen von Beitragszahlern.

Vermutlich bleibt – wie kürzlich beim Klimaschutz – nur der Gang vors Bundesverfassungsgericht, um dem Lippenbekenntnis der Regierenden zur Generationengerechtigkeit endlich Taten folgen zu lassen. Schon die bewusste Aussetzung des Nachhaltigkeitsfaktors, der ja nicht umsonst so heißt, ist ein Vergehen an der nächsten Generation. Im Jahr 2050 würde – ceteris paribus – jeder Erwerbstätige einen Rentner zu finanzieren haben. Aber vielleicht ist das ja die neue Interpretation von Generationengerechtigkeit à la Altmaier, Heil & Co.: Jedem sein Rentner.

c.doering@boersen-zeitung.de