Zürich

Diskriminierungs­gefahr im Sozial­versicherungs­wesen

Das Volk hat entschieden: In der Schweiz wird die staatliche Alters- und Hinterbliebenenversicherung reformiert. Bis die Rentenungerechtigkeit zwischen Männern und Frauen, verheirateten und unverheirateten verschwindet, dauert es aber noch.

Diskriminierungs­gefahr im Sozial­versicherungs­wesen

Nun hat es die Schweiz also doch noch geschafft. 25 Jahre nach der Erhöhung des Frauenrentenalters von 62 auf 64 Jahre konnte sich das Stimmvolk Ende September zur ersten größeren Reform der staatlichen Alters- und Hinterbliebenenversicherung (AHV) seit einem Vierteljahrhundert entschließen. Die Reformvorlage bestand aus zwei Teilen, über die es separat abzustimmen galt: Eine Zusatzfinanzierung über eine kleine Erhöhung der Mehrwertsteuer sowie die Angleichung des Rentenalters der Frau auf die 65 Jahre, wie sie für Männer schon seit der Einführung der AHV im Jahr 1948 gelten. Der letztere und gewichtigere Teilentscheid fiel mit einem Ja-Stimmenanteil von 50,6% denkbar knapp aus.

Dabei hat die AHV ein offenkundiges Finanzierungsproblem, das sich zuspitzt, wenn die letzten geburtenstarken Jahrgänge der frühen 1960er Jahren in Pension gehen werden. Schon heute zahlen nur noch 10% der Versicherten in ihrem Erwerbsleben mehr in die Kasse ein, als sie später daraus beziehen. Aber die AHV ist eben auch eine Sozialsteuer. Alle Erwerbstätigen bezahlen den gleichen prozentualen Anteil ihres Lohnes ein. Die zentrale Bestimmungsgröße, die zum Bezug einer Maximalrente ermächtigt, ist jedoch nicht die Summe der geleisteten Beiträge, sondern die Anzahl der Beitragsjahre.

Die Linke bekämpfte die Reform mit aller Macht – aber natürlich nicht, weil sie die Notwendigkeit einer besseren Finanzierung bestreiten würde, sondern weil sie den Gutverdienern gerne noch etwas höhere Lasten aufgebürdet hätten, um den Frauen die Erhöhung des Rentenalters zu ersparen. Offensichtlich waren viele Frauen damit einverstanden, wie das knappe Ergebnis zeigte.

Sind die Schweizer Frauen also besonders eigennützig? Viele ihrer politischen Protagonistinnen, vor allem auf der linken Seite des Spektrums, beharren auf dem exakten Gegenteil. Zwar gehört die Erwerbsquote der Schweizer Frauen zu den höchsten in ganz Europa. Aber nirgends ist der Anteil der in Teilzeit arbeitenden Frauen höher als in der Schweiz. Die unbezahlte Familienarbeit laste immer noch zu einem sehr großen Teil auf den Schultern der Frauen, lautet das Argument vieler, die der Reform eine Abfuhr erteilt hatten. Es ist ein starkes Argument, wenn auch eines, das in Anbetracht der rasch zunehmenden weiblichen Erwerbsbeteiligung an Kraft verliert.

So oder so stellt der geschlechtliche Unterschied beim Rentenalter eine positive Diskriminierung der Frauen dar, die diesen selbst in einer modernen Welt nicht mehr wirklich angenehm sein kann. Das niedrigere Rentenalter der Frauen steht für das veraltete Gesellschaftsmodell, in dem der Mann allein für den Lebensunterhalt der Familie aufkommt und die Frau den Haushalt besorgt.

Dass dieses Modell nicht mehr zeitgemäß ist, hat in der vergangenen Woche nun auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt – allerdings zugunsten eines männlichen Klägers. Dem 69-jährigen Witwer Max Beeler hatte die AHV die Hinterlassenenrente gestrichen, als sein jüngstes Kind mit 18 volljährig wurde. Hingegen steht den Witwen auch dann noch eine Rente zu, wenn ihre Kinder erwachsen sind. Selbst kinderlose Witwen haben Anspruch auf eine Hinterlassenenrente, obschon sie nichts daran hindert, ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Ein Mann aber soll sich selber helfen, auch wenn seine Kinder noch in der Ausbildung stecken. Eine klare Diskriminierung, befand das Gericht und gab dem Kläger recht.

Die Ungerechtigkeit ist in der Politik längst bekannt und die Sozialkommission des Parlaments hat schon erste Vorschläge unterbreitet, wie sie zu eliminieren wäre: Witwenrenten sollte es künftig für niemanden mehr geben, wenn die Kinder die Erstausbildung abgeschlossen haben. Dafür sollte die Rente allen Eltern unabhängig von ihrem Zivilstand zustehen. Aber damit wird die Sache mit der gerechten Rente nicht einfacher. Verheiratete Paare können aus der AHV eine Rente von maximal 150% erhalten – unverheiratete Paare dagegen bis zu zweimal 100%. Die Schweiz erlebt gerade, dass die Anpassung des Rechts an gesellschaftliche Veränderungen ziemlich anspruchsvoll sein kann. Es gilt selbst den Stellenwert der Ehe zu hinter­fragen.

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