Unterm StrichGeldpolitik

Ein Navi für die EZB

Fehlende Guidance suggeriert Orientierungslosigkeit. Der Verweis der EZB auf datenabhängige Zinsentscheidungen ist eine Selbstverständlichkeit, aber keine Strategie.

Ein Navi für die EZB

Ein Navi
für die EZB

Von Claus Döring

Fehlende Guidance suggeriert Orientierungslosigkeit. Der Verweis der EZB auf datenabhängige Zinsentscheidungen ist eine Selbstverständlichkeit, aber keine Strategie.

Wortreich haben die professionellen Kaffeesatzleser in Banken und ökonomischen Instituten die Geldpolitik der amerikanischen und europäischen Notenbank analysiert und dargelegt, warum nach den Leitzinserhöhungen der vergangenen Tage nun dies- und jenseits des Atlantiks eine Pause oder gar das Ende des Zinserhöhungszyklus gekommen sein könnte – oder warum doch noch nicht. Einen entscheidenden Aspekt haben sie dabei kaum beachtet. In den USA liegt der Leitzins mittlerweile mehr als 200 Basispunkte über der Inflationsrate, der Realzins ist also positiv. In der Eurozone dagegen liegt er noch mehr als 100 Basispunkte unter der Inflationsrate, der Realzins ist also weiterhin deutlich negativ. Deshalb verdient die Geldpolitik der Fed aktuell das Label restriktiv, während die EZB-Politik weiterhin als expansiv zu bezeichnen ist.      

Insofern ist es auch nicht dasselbe, wenn Fed-Chef Jerome Powell und EZB-Präsidentin Christine Lagarde nun angekündigt haben, geldpolitisch auf Sicht zu fahren und erst einmal die nächsten ökonomischen Daten abwarten zu wollen. Denn Powell sieht beim Blick auf sein geldpolitisches Navi, dass er nicht mehr weit vom Ziel – dem Sieg über die Inflation – entfernt ist und er bei Bedarf auch eine Pause einlegen oder einen kleinen Umweg über eine konjunkturell weniger belastende Strecke nehmen könnte. Und er muss in seiner zweiten Amtszeit auch keine Diskussionen mit jenen führen, in deren Navi alternative geldpolitische Routen vorgeschlagen werden oder gar ein anderes geldpolitisches Ziel programmiert ist.

So einfach hat es die EZB-Präsidentin nicht. Nach anfänglichen Programmierproblemen mit dem Navi hatte Lagarde das Ziel zwar eingegeben, musste aber feststellen, dass die gewählte Route nicht der direkte und der schnellste Weg zum Ziel ist. Selbst den aktuellen Standort scheint das EZB-Navi nicht zuverlässig oder nur mit einiger Verzögerung anzuzeigen, weshalb Daten und verbleibende Wegstrecke nun monatlich überprüft werden sollen. Zweifel wachsen, ob die EZB überhaupt über ein funktionstüchtiges Navi verfügt, zumal die atmosphärischen Störungen aus dem Süden zunehmen werden. Immer mehr Wegbegleiter äußern die Sorge, die EZB könnte schon übers Ziel hinausgeschossen sein. Das Navi einfach auszuschalten ist nicht zuletzt der Wunsch der Euroland-Peripherie. Beispielsweise in Spanien, wo man angesichts einer Inflationsrate auf EZB-Zielniveau und relativ robusten Wachstums wenig Verständnis für einen restriktiven Kurs der Notenbank zeigt. Die relative Preisstabilität auf der Iberischen Halbinsel wurde freilich mit administrierten Energiepreisen und zusätzlicher Staatsverschuldung erkauft. Dass bei Verschuldungsquoten von 113% des BIP in Spanien, 112% in Frankreich und 144% in Italien die Zinserhöhungen der EZB anders gesehen werden als in Deutschland mit 66% Schuldenquote, liegt auf der Hand. Aber auch hierzulande wächst der Widerstand gegen die Zinswende, parallel zur Rezessionsgefahr. Doch die leichte Abschwächung der Verbraucherpreissteigerung in Deutschland im Juli auf 6,2% signalisiert noch keine Entwarnung und rechtfertigt auch keine Kursänderung in der Inflationsbekämpfung.

Dass Notenbanken ihre Entscheidungen jeweils auf der Grundlage einer Vielzahl aktueller Daten treffen, wie jüngst von Fed und EZB kommuniziert, ist die Beschreibung ihres Pflichtenheftes, aber keine Strategie. Da die EZB im Gegensatz zur Fed noch eine gehörige Wegstrecke in der Inflationsbekämpfung zurückzulegen hat und nicht zuletzt ihre immer noch gewaltig aufgeblähte Bilanz schrumpfen muss, sollte Christine Lagarde konsequent ihrer Zieleingabe auf dem geldpolitischen Navi folgen. Fehlende Guidance der Präsidentin suggeriert Orientierungslosigkeit und Beliebigkeit und kann von EZB-Ratskollegen, Politikern und Kapitalmärkten als Einladung verstanden werden, ihrem eigenen Navi zu folgen.       

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