Ein Versäumnis
Heinz Hermann Thiele soll vor ein paar Jahren einmal gesagt haben, er werde bis zum letzten Atemzug Unternehmer bleiben. Tragischerweise hat sich seine Vorhersage bewahrheitet. Gut fünf Wochen vor seinem 80. Geburtstag fand Thieles Leben ein jähes Ende. Welche Folgen das für sein Lebenswerk – Knorr-Bremse – und vor allem für die Eigentümerstruktur hat, ist für die Öffentlichkeit noch nicht abzusehen. Die Grundzüge des Testaments werden wohl erst in einigen Tagen bekannt.
Thiele hat mit seiner Karriere vom Sachbearbeiter zum Eigentümer, Vorstandschef und Milliardär das Münchner Unternehmen zum Weltkonzern und Branchenführer für Bremsen in Zügen und Lastwagen geformt. Der Börsengang im Oktober 2018 war der erste große Schritt, um die Nachfolge zu regeln. 30% des Unternehmens gelangten in Streubesitz, mittlerweile sind es 41%. Die Mehrheit von 59% ist im Besitz der KB Holding der Familie Thiele. Diese Gesellschaft hält auch die Beteiligungen an Vossloh (50,09%) und der Lufthansa (12,42%).
Vor dem Börsengang wurde angesichts der dafür vorgeschriebenen Transparenz bekannt, dass Thiele die Mehrheit an der Holding besitzt, seine Tochter Julia die anderen Anteile. Ob und was sich seitdem verändert hat, ist für die Öffentlichkeit unklar. Es war ein Versäumnis Thieles, hierüber die anderen Aktionäre nicht zu informieren.
Kurz vor dem Börsengang hatte er in einem Interview eine Stiftung als Basis für die Nachfolge als naheliegenden Gedanken bezeichnet. Ob er diesen weiterverfolgt hat, wird sich herausstellen. Seine Kinder kamen jedenfalls für die Übernahme der Rolle des Übervaters nicht in Frage. Sein Sohn Henrik hatte das Unternehmen 2015 verlassen, kurz bevor er in den Vorstand aufrücken sollte.
Thiele war in der Belegschaft und bei Gewerkschaften für seinen harten Führungsstil berüchtigt. Auch Vorstände hatten damit Schwierigkeiten oder genügten nicht seinen Anforderungen. Bis zuletzt schaute Thiele seinen Topmanagern nicht nur über die Schulter, sondern auch auf die Finger, wie es ein ehemaliger Vorstandschef formulierte.
Der neue Konzernchef Jan Mrosik ist noch nicht einmal zwei Monate auf seinem Posten. Bekommt er im Gegensatz zu seinem Vorgänger Bernd Eulitz die beiden fürs Nutzfahrzeug- und Schienenfahrzeugsegment zuständigen Vorstände hinter sich, könnte im Topmanagement Ruhe einkehren. Immerhin: Das Geschäftsmodell erweist sich trotz Corona als robust. Ganz plötzlich ist Knorr-Bremse in der Nach-Thiele-Zeit angelangt.