Schanghai

Es riecht nach Heldentum

China setzt auf Corona-Nulltoleranz bei ungeschmälerter Konjunkturdynamik. Das kann nur gelingen, wenn „Wang Normalverbraucher“ über sich selbst hinauswächst.

Es riecht nach Heldentum

„Grace under pressure“ lautet das berühmte Leitmotiv des Literaten Ernest Hemingway. Gemeint ist, dass sich wahres Heldentum oder Zivilcourage daran festmachen lässt, in einer Notlage oder Stresssituation die Übersicht zu behalten, entschlossen zu handeln und vor allem seine Würde nicht preiszugeben. Das Hemingway-Motto hat sich auf literarischer Ebene als nobelpreisfähig erwiesen. Es taugt aber auch als Handlungsmaxime im modernen Großstadtalltag. Dort gilt es bisweilen, mit unerwarteten Sondersituationen fertig zu werden. Und zwar so, dass man hernach noch ohne Schamesröte in den Spiegel schauen kann.

Die Pandemie ist eine solche Sondersituation. Da sie sich nach zweijähriger Abstinenz nun in einigen chinesischen Großstädten wieder ausbreitet, häufen sich Geschichten über Bürger, die mit vorbildlichem Handeln anderen den rechten Weg weisen. Da ist zum Beispiel eine Dame aus Hangzhou, nennen wir sie Frau Wang, die das schlechte Gewissen plagte, ohne taufrischen Coronatest ihren Alltagsbeschäftigungen nachzugehen. Ergo ist sie besonders früh aufgestanden und schnurstracks zum nächstgelegenen Krankenhaus marschiert, um sich in die Warteschlange, die sich bereits um den ganzen Block wand, einzureihen.

Frau Wang hat sich ohne Frühstück geduldig mehrere Stunden in der Schlange vorgearbeitet, um nahe am Ziel angelangt festzustellen, dass das Defilee wohl kaum zum erhofften Wattebausch-Abstrich in der Nase führen würde. Sie befand sich nämlich in der Pole-Position vor einem Imbissstand. Der hatte nach zeitweiligen Versorgungsengpässen Brathähnchen hereinbekommen und damit die ganze Nachbarschaft mobilisiert. Unter dem engen Mund-Nase-Schutz konnte Frau Wang den Braten freilich nicht riechen.

Was tun? Wütend umdrehen und sich einen Block weiter erneut für Stunden anstellen? Nein, Frau Wang hat die Fasson bewahrt. Statt über ihr Missgeschick zu klagen und am Ende noch von Umstehenden verspottet zu werden, hat sie mit ruhiger Stimme nicht ein, sondern zwei Brathendl geordert. Dann ist sie erhobenen Hauptes mit dem dampfenden Geflügel nach Hause geschritten. Der Test wird nachgeholt, die Familie kriegt nun ein schmackhaftes Mittagessen geboten, und es bleibt genug übrig, um alten Nachbarn, die sich wegen Corona schon nicht mehr aus der Wohnung trauen, eine kleine Überraschung zu bereiten. Grace under pressure? Papa Hemingway hätte sicherlich anerkennend Richtung China genickt.

Frau Wang hat ihre Geschichte als Videobeitrag ins Netz gestellt, um der Allgemeinheit die Lehre mitzugeben, sich in der Pandemiehektik nicht blindlings irgendwo anzustellen. In sozialen Medien hagelt es Lob. Vor allem wegen des doppelten Hähnchenkaufs. Der erklärt nämlich, was die Regierung mit ihrer als „dynamische Covid-Nulltoleranz“ bezeichneten Bewältigungsstrategie eigentlich meint: rigoroses Verhindern von Neuansteckungen, ohne der Wirtschaft Schaden zuzufügen. Gerade dazu braucht es den Konsumenten mit kühlem Kopf.