Europas heißer Streikherbst
Notiert in Brüssel
Heißer Streikherbst
Von Stefan Reccius
Bis zur letzten Minute haben die Gewerkschaften der Fluglotsen in Belgien mit Streik gedroht. Unmittelbar vor Ablauf der Verhandlungsfrist verkündeten sie eine Einigung mit ihrem Arbeitgeber Skeyes. Aufatmen konnten Flugreisende im Großraum Brüssel aber nur, sofern sie es zum Flughafen schafften.
Denn zeitgleich musste der Nahverkehrsbetreiber auf Zumutungen einstellen: Metro-, Tram- und Busverbindungen in der Hauptstadt seien "stark gestört", hieß es Donnerstagfrüh, bedient würden lediglich ausgewählte Linien. Der Grund: Viele Beschäftige demonstrierten vor dem Justizministerium.
Gewerkschaften und Menschenrechtsorganisationen hatten zum landesweiten Streik aufgerufen. Sie mobilisieren gegen ein von der Regierung aufgelegtes Gesetz, das seit Monaten heftige Gegenwehr heraufbeschwört. Es geht um das Van-Quickenborne-Gesetz, benannt nach dem belgischen Justizminister Vincent Van Quickenborne.
Die Gesetzespläne zielen darauf ab, Randalierern die Teilnahme an Demonstrationen zu verbieten, wenn sie nachweislich Vandalismus oder Brandstiftung begangen haben. Kritiker des vorgeschlagenen Gesetzes befürchten, dass es das Recht auf Protest im Allgemeinen verletzen würde. Nicht nur belgische Gewerkschaften begehren auf, sondern auch Amnesty International und Greenpeace.
Vorbild Joe Biden
In Reaktion auf Demonstrationen im Juni passte das Justizministerium einige Passagen des Gesetzentwurfs an. Das Protestbündnis konnte es damit nicht besänftigen: Die Änderungen seien oberflächlich und unzureichend, so der Vorwurf. Für die Streikenden ist das Hauptproblem nicht gelöst: Sie befürchten nach wie vor, dass die Pläne friedliche Demonstranten bei größeren Kundgebungen nicht etwa wie vorgegeben schützen, sondern kriminalisieren.
Anlässe für Streiks gibt es momentan genug, nicht nur in Belgien. Stark gestiegene Lebenshaltungskosten, Bildungskrise, eine befürchtete Rückkehr zur Austeritätspolitik: Man hat den Eindruck, die europäische Dachgewerkschaft ETUC hat einen heißen Streikherbst ausgerufen. Mächtig Auftrieb gibt den hiesigen Arbeitnehmervertretern der amerikanische Präsident Joe Biden, der sich neulich in Michigan mit streikenden Autoarbeitern solidarisierte. Europas Spitzenpolitiker sollten sich Biden zum Vorbild nehmen, finden sie.
Inspiration aus Gräfenhausen
Bis nach Brüssel herumgesprochen hat sich auch ein bizarrer Streik an der Autobahn 5 in Südhessen, der am Wochenende zu Ende gegangen ist. An der Raststätte Gräfenhausen harrten monatelang Lkw-Fahrer aus, weil ein polnischer Speditionsunternehmer ihnen mehr als eine halbe Million Euro an Lohn geschuldet haben soll. In den Blockbuster-Streik schaltete sich neben dem deutschen Arbeitsministerium auch EU-Sozialkommissar Nicolas Schmit ein.
Ausgesprochen gute Noten der internationalen Gewerkschaftsszene bekommt das Bundesamt BAFA. Die Behörde habe eine Untersuchung gegen Firmen eingeleitet, die mit dem inkriminierten Spediteur aus Polen zusammenarbeiten, und einen Krisengipfel einberufen. Der Druck hat Erfolg: Nach Angaben eines Arbeitnehmervertreters ist nun Geld geflossen. Der polnische Unternehmer soll schriftlich zugesichert haben, eine Strafanzeige gegen die dauerstreikenden Fahrer bei der Staatsanwaltschaft Darmstadt fallen zu lassen.
Die frohe Kunde bewegt auch Interessenverbände in Brüssel. Für Livia Spera, Generalsekretärin der paneuropäischen Transportgewerkschaft ETF, zeigt dieser Erfolg eindrücklich, was Arbeiter erreichen können, wenn sie zusammenstehen. Ihren Kollegen Stephan Cotton vom globalen Gewerkschafts-Zusammenschluss ITF spornen die streikenden Lkw-Fahrer von Gräfenhausen mindestens so sehr an wie der amerikanische Präsident: Ihre Einheit sei "eine gewaltige Inspiration für uns alle".