Flirt mit den Falschen
Die Anweisung an den eigenen Stab war eindeutig: „Entscheidungen sind auf der Grundlage der besten verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse zu treffen, und wir werden der Öffentlichkeit jeden Schritt oder jede Reaktion erklären – einschließlich dessen, was wir wissen und was nicht.“ So erinnert ein früherer US-Präsident seine Maßgabe, als die Weltgesundheitsorganisation zum ersten Mal seit Jahrzehnten eine Pandemie feststellte. Es war das Jahr 2009, im Weißen Haus saß Barack Obama und es grassierte ein Virus namens H1N1, landläufig als Schweinegrippe bezeichnet.
Eine Dekade später hält das Coronavirus die Welt im kollektiven Ausnahmezustand. Es darf als gesichert gelten, dass weder Obamas Nachfolger Donald Trump noch dessen Gesinnungsgenosse Jair Bolsonaro in Brasilien solche Worte in den Sinn kommen. Der Tropen-Trump und das Original inszenieren sich um jeden Preis als starke Männer, die Unsicherheit und unvollständige Information für ein intolerables Eingeständnis von Schwäche halten. Eine ihrer bedenklichsten Gemeinsamkeiten ist: Mit Draufgängertum und vollmundigen Versprechen nehmen die Trumps und Bolsonaros nicht nur die breite Bevölkerung für sich ein, sondern auch Finanz- und Wirtschaftseliten. Viele lassen sich bereitwillig von den vermeintlich wirtschaftsliberalen und reformwilligen Politaufsteigern blenden – in der Hoffnung, dass nach Jahren von Korruption und Misswirtschaft alles besser wird oder schlicht eine neue Blüte einsetzt. Am Ende stellen sie erschrocken fest, dass sich ihre Hoffnungsträger als Populisten und Autokraten entpuppen, die ihr Land an den Abgrund führen. Das ist ein Menetekel mit Blick auf die Präsidentschaftswahlen in Frankreich, wo die einst radikale Trump-Sympathisantin und EU-Gegnerin Marine Le Pen mit moderateren Tönen auffällt, um den immer unbeliebteren Präsidenten Emmanuel Macron herauszufordern.
In Amerika erlebten Wirtschaft und Wall Street das Ende der Ära Trump mit Schrecken und schlechtem Gewissen. Der von Trump provozierte Anschlag auf die Demokratie hat sie traumatisiert. Reihenweise sagten sich jene, die nicht schon wegen der Handelskriege auf Distanz gegangen waren, von dem Mann los, den sie über Jahre mit Worten und Millionen gepusht hatten. Zurück bleiben Reue und tiefe Wunden. Dabei hatte Trumps Präsidentschaft mit der Unternehmenssteuerreform und Börsenrekorden so verheißungsvoll begonnen.
Noch so eine verblüffende Parallele zu Bolsonaro: Kaum im Amt, lieferte auch er. Sein hoch angesehener Wirtschaftsminister Paulo Guedes stemmte eine Sozialversicherungsreform, an der sich andere verhoben hatten. Vom Heilsbringer zum Hetzer stürzte der Brasilianer noch rasanter als Trump: Das Coronavirus wütet wie nie, doch Bolsonaro spielt es nach wie vor herunter, statt auf den Rat von Gesundheitsexperten zu hören. Er besetzt immer mehr Schaltstellen in Politik und Wirtschaft mit Militärs wie jüngst beim Energiekonzern Petrobras, was unheilvolle Erinnerungen an frühere Militärdiktaturen weckt. Ausländische Investoren und Konzerne wie Ford und Daimler nehmen Reißaus. Indem Bolsonaro den Regenwald niederbrennen lässt, setzt der Klimawandelleugner nicht nur die Zukunft des Planeten, sondern auch das Freihandelsabkommen mit der EU aufs Spiel.
Trump und Bolsonaro sind die abschreckendsten Vertreter dieser Zunft von Polit-Hasardeuren, aber nicht die einzigen. In Ägypten regiert seit einem Militärputsch 2013 der General Abdel-Fattah al-Sisi. Seinen zur Schau gestellten Reformwillen begrüßten viele als Weg aus jahrzehntelanger Stagnation. Geldgeber wie der Internationale Währungsfonds und die Bundesregierung gaben Milliardenkredite, weil al-Sisi einen flexibleren Wechselkurs und einen Abbau von Subventionen und Schulden versprach. Der erhoffte Entwicklungsschub ist nicht in Sicht. Vielmehr regiert al-Sisi im Stile eines Diktators, der jegliche Opposition brutal unterdrückt. Das Geschäfts- und Investitionsklima ist laut Weltbank miserabel, die Auslandsschulden haben sich mehr als verdoppelt, und statt mehr Markt dominiert mehr denn je das Militär die Wirtschaft.
Der Flirt mit Populisten und Autokraten folgt dem Zyklus: Hofieren, anfängliche Erfolge, jäher Absturz, Reue. In Ägypten klammert sich Präsident al-Sisi an die Macht und verlängert das wirtschaftliche Siechtum. Brasilien befindet sich anderthalb Jahre vor der Präsidentschaftswahl am Übergang von der Absturz- in die Reue-Phase. Und in den USA muss Joe Biden erst noch beweisen, dass auch ein 78 Jahre alter Berufspolitiker, der sinnbildlich für den Status quo steht statt für Aufbruch, zum Hoffnungsträger taugt.(Börsen-Zeitung, 19.3.2021)