Fragiles Italien
Die Wiederwahl Sergio Mattarellas zum italienischen Präsidenten und die Bestätigung Mario Draghis als Premierminister haben für Aufatmen in Italien und Europa gesorgt. Die bisherige Regierung der nationalen Einheit kann damit voraussichtlich bis zu den Parlamentswahlen im Frühjahr 2023 weiterarbeiten und das unter Draghi gestartete Reformprogramm fortführen. Das ist die Voraussetzung dafür, dass Italien als größter Nutznießer des europäischen Wiederaufbauprogramms auch weiterhin Zuschüsse und Kredite aus Brüssel erhält. Unter dem Ex-Präsidenten der Europäischen Zentralbank ist Italien 2021 um 6,5% gewachsen, hat die Corona-Pandemie relativ gut in den Griff bekommen und internationales Vertrauen zurückgewonnen.
Doch die Atempause könnte nur von kurzer Dauer sein. Die steigende Inflation, die deutlich höheren Energiepreise und wachsende soziale Spannungen bedrohen das Wachstum. Vor allem aber hat das peinliche Geschacher um die Wahl eines neuen Präsidenten gezeigt, wie zerstritten und unverantwortlich die politischen Parteien sind. Die politische Rechte um die Populisten Matteo Salvini und Giorgia Meloni ist tief gespalten, die 5-Sterne-Bewegung steht vor der Implosion. Zusammengehalten wird die Regierung von zwei alten Herren, von denen der eine, der 80-jährige Präsident Mattarella, keinen Hehl daraus macht, nur aus Verantwortungsgefühl eine zweite Amtszeit akzeptiert zu haben, und der andere, der 74-jährige Draghi, lieber Präsident geworden wäre, als sich im alltäglichen Streit mit den Parteien aufzureiben.
Die nationalistische Lega will die Anti-Corona-Maßnahmen nicht mehr mittragen. Ihr Chef Matteo Salvini setzt zudem, in Eintracht mit 5-Sterne-Chef Giuseppe Conte, Draghi unter Druck und fordert einen Nachtragshaushalt über 30 Mrd. Euro. Dabei ist das Budget ohnehin schon auf Kante genäht. Brüssel kritisiert die viel zu hohen Ausgaben. Draghi hat bereits 12 Mrd. Euro zum Ausgleich der hohen Energie- und Gaspreise und 18 Mrd. Euro für die ultrateuren Boni für die energetische Sanierung von Gebäuden lockergemacht, die vielfach missbraucht werden. Doch selbst wenn Draghi Salvinis Forderungen nicht erfüllt: Das geplante Haushaltsdefizit von 5,6% für dieses Jahr kann er kaum einhalten, zumal die Wirtschaft zunehmend schwächelt.
Beobachter bezweifeln überdies, dass Draghi seine rund hundert Reformvorhaben in diesem Jahr durchbekommt – vor allem ab Sommer, denn dann wirft der Wahlkampf seine Schatten voraus. Schon im vergangenen Jahr sind viele Vorhaben liegen geblieben bzw. nur halb durchgeführt worden. Das gilt etwa für die dringend nötige Rentenreform, für die Reformen des Wettbewerbsrechts und der Justiz, deren Umsetzung Mattarella in seiner Rede zur Wiederwahl dringend anmahnte. Viele Vorhaben konnte die Regierung außerdem in den letzten Monaten nur durch Dekrete durchpeitschen und mit der Vertrauensfrage verknüpfen, wobei das Parlament teilweise ausgeschaltet wurde. Das ist ein demokratisch zumindest zweifelhaftes Verfahren. Viele Fachleute bezweifeln überdies, dass Italien überhaupt in der Lage ist, die europäischen Gelder auszugeben. Vor allem im Süden sind Regionen und Kommunen mangels fachlich geschulter Kräfte kaum dazu in der Lage.
Draghi weiß, dass er wenig Zeit hat. Sein Spielraum dürfte nicht nur innenpolitisch zunehmend kleiner werden. Der Zinsabstand (Spread) zwischen deutschen und italienischen Staatsanleihen ist auf mehr als 160 Basispunkte gestiegen, mehr als 70 Punkte über dem Wert zu Draghis Amtsantritt im Februar 2021. Das ist ein Indikator dafür, dass die Zeit der unbegrenzten Ausgaben vorbei ist. Denn die Europäische Zentralbank, die bisher mit ihren Anleiheaufkäufen und ihrer Politik der Negativzinsen ein wichtiger Verbündeter des Landes war, dürfte die geldpolitischen Zügel schon bald zumindest etwas anziehen. Das aber ist für das hoch verschuldete Italien ein Alarmzeichen, denn steigende Zinsen schrecken Investoren ab und erhöhen die Zahlungsbelastungen für Rom. Solange Draghi im Amt ist, dürfte sich die EU-Kommission Italien gegenüber nachsichtig zeigen.
Der Premierminister wird nun alles tun, um im Bündnis mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Spaniens Pedro Sánchez dafür zu sorgen, europäische Hilfen an den Club Med zu verstetigen und den europäischen Stabilitätspakt aufzuweichen. Denn ohne Europas Hilfe ist Italien nicht überlebensfähig. Wie fragil das Land ist, wurde angesichts der Jubelmeldungen der letzten Monate im Rest-Europa leider vergessen.