Goldgräber treffen auf Bedenkenträger
KI-Regulierung
Goldgräber treffen auf Bedenkenträger
Von Stefan Reccius
Rückzug aus der EU? Die vermeintliche Drohung des OpenAI-Chefs mahnt eindringlich, künstliche Intelligenz maßvoll zu regulieren.
Es vergeht kein Tag, an dem der Umgang mit künstlicher Intelligenz nicht neue Schlagzeilen heraufbeschwört. Der kommende Mittwoch wird keine Ausnahme sein: Dann legt das Europaparlament in Straßburg aller Voraussicht nach seine Position zum AI Act fest. Mit dem Gesetz versucht sich die Europäische Union an dem Kunststück, künstliche Intelligenz (KI) zu domestizieren, ohne sinnvolle Innovationen abzuwürgen.
Wie schmal dieser Grat ist, das konnte man Ende Mai erahnen. Auf seiner Europatour in London deutete Sam Altman, Chef des ChatGPT-Entwicklers OpenAI, scheinbar einen Rückzug aus Europa an, sollten die Gesetzgeber mit der Regulierung überziehen. So ließen sich seine Aussagen zumindest deuten. Bei einem Auftritt in München am Tag darauf beteuerte Altman, er sei sehr wohl für eine Regulierung von KI. Ein Rückzug? Aber nein!
Altmans vermeintliche Drohung, den Betrieb von ChatGPT in der EU einzustellen, mahnt eindringlich zu einer maßvollen Regulierung. Längst ventilieren Wirtschaftsverbände Sorgen um Wettbewerbsfähigkeit und Wohlstand, sollten die Gesetzgeber überziehen und KI-Entwickler aus Europa vertreiben. Was wirtschaftlich auf dem Spiel steht, zeigen gerade Halbleiterkonzerne: Der KI-Boom hat den US-Konzern Nvidia über 1 Bill. Dollar Marktkapitalisierung getrieben. In die Höhe schnellende KI-Umsätze verleihen auch Foxconn aus Taiwan kräftig Schub.
Keine Frage: In der Branche und verwandten Geschäftszweigen herrscht Goldgräberstimmung. In frappierendem Kontrast dazu steht tiefe Besorgnis, die buchstäblich bis zu Weltuntergangsszenarien reicht. Es sind paradoxerweise nicht wenige KI-Pioniere, die derartige Ängste schüren. Erst vor wenigen Tagen hat das Center for AI Safety für Aufsehen gesorgt. In einem sehr knappen Appell stellen die Unterzeichner „das Risiko einer Vernichtung durch KI“ auf eine Stufe mit „Pandemien oder Atomkriegen“. Unter ihnen: OpenAI-Chef Sam Altman.
Elon Musk warnt vor KI
Es ist nicht die erste eindringliche Warnung dieser Art. Schon im Frühjahr hatte ein illustrer Kreis aus Wissenschaftlern und Wirtschaftsgrößen um Elon Musk Alarm geschlagen: Sie forderten ein mindestens sechsmonatiges Moratorium für das Training weit entwickelter, selbst lernender Algorithmen. Die Politik, so die unmissverständliche Botschaft, kann mit den Quantensprüngen nicht Schritt halten. Wir verlieren die Kontrolle.
Kein Wunder, dass sich die Politik getrieben fühlt. Die rasanten Fortschritte bei ChatGPT, Altmans KI-Wunderwerk, lassen die Arbeiten am AI Act wie in Zeitlupe wirken. Sie laufen seit mehr als zwei Jahren. Erst jetzt steuern Parlamentarier, EU-Staaten und EU-Kommission auf gemeinsame Verhandlungen zu. Das Ganze wird also noch dauern.
In Brüssel und Straßburg denken sie deshalb fieberhaft über Zwischenlösungen nach. Im Konzert mit den USA und den Regierungen anderer großer Industriestaaten erarbeitet die EU-Kommission einen Verhaltenskodex: Gemeinsam wollen sie die Wirtschaft in einem Kraftakt dazu bringen, sich selbst im Umgang mit künstlicher Intelligenz zu beschränken. Eine freiwillige Selbstverpflichtung, weil es mit der Regulierung zu langsam vorangeht? Man könnte das verzweifelt nennen. Oder pragmatisch.
Tatsächlich ist gerade ein abgestimmtes Vorgehen mit den USA von herausragender Bedeutung. Das zeigen die Reibereien zwischen Meta und dem Europäischen Gerichtshof (EuGH): Die Luxemburger Richter haben die Facebook-Mutter wiederholt für Verstöße gegen die Datenschutz-Grundverordnung (DSGVO) abgestraft. Es drohen Kollateralschäden für Tausende transatlantisch tätiger Unternehmen, die im schlechtesten Fall in wenigen Monaten Datentransfers über den Atlantik einstellen müssen.
Die DSGVO zeigt: Der AI Act muss nicht nur ausgewogen sein, sondern Rechtssicherheit gewährleisten. Die Europaabgeordneten sind nicht zu beneiden, wenn sie nächste Woche abstimmen. Sie tragen große Verantwortung. Es gilt, das richtige Maß zu finden – und sich weder von Bedenken einschüchtern noch von Wirtschaftsinteressen treiben zu lassen.