Hundert Jahre und kein bisschen leise
An der Zahl 100 gibt es im chinesischen Alltag derzeit kein Vorbeikommen. Sie begegnet einem überall in fetten roten Ziffern, die von sonnenstrahlgleichen gelben Linien eingerahmt werden und zudem mit einem schmuckvollen Hammer-und-Sichel-Ornament aufwarten. Man sieht sie in der U-Bahn, in Geschäften, in Behörden, auf Straßenplakaten und Banderolen und natürlich auf staatskontrollierten – und damit praktisch allen – Medienkanälen. Da hat nämlich jemand Geburtstag und kann es sich einfach nicht verkneifen, alle daran partizipieren zu lassen. Notfalls eben mit sanfter Überzeugungsgewalt und hemmungsloser Reizüberflutung. Vor genau hundert Jahren, am 1. Juli 1921, fand in Chinas damals schon modernster und neuen Strömungen gegenüber besonders aufgeschlossener Großstadt Schanghai ein kleiner, feiner und feierlicher Kongress statt, mit dem die Kommunistische Partei Chinas ins Leben gerufen wurde. Es war eine Zeit des politischen Umbruchs in China, nachdem zehn Jahre zuvor die jahrtausendealte kaiserliche Dynastie abgeschafft worden war und nun an allen Ecken und Enden revolutionärer Eifer aufkeimte.
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Die Gründer der chinesischen KP ließen sich von marxistischen Idealen inspirieren und der KP mit tatkräftiger Unterstützung der Kommunistischen Partei der damaligen Sowjetunion eine vergleichbare Organisationsstruktur angedeihen. Dabei griffen sie auch gleich auf das Hammer-Sichel-Wappen als Parteiemblem und eine rotgelbe Farbgebung zurück.
Auf dem Kongress hatte übrigens auch ein junger, kämpferisch auftretender Delegierter der Provinz Hunan einen wortgewaltigen Auftritt und ließ eine Ader für Machtansprüche aufblitzen, die ihn später zum Kommandeur der Roten Armee aufsteigen ließ. Der Rest ist Geschichte, es handelte sich nämlich um einen gewissen Mao Zedong, den Gründer der Volksrepublik China, dessen Antlitz noch heute im Riesenformat auf dem Pekinger Platz des Himmlischen Friedens prangt.
Mit Mao als Heldenfigur ist im „modernen Sozialismus chinesischer Prägung“ nur noch bedingt Staat zu machen. Zwar werden die unter Maos kommunistischer Gesinnung erlittenen wirtschaftlichen Katastrophen, Hungersnöte und Schrecken der Kulturrevolution in historischer Aufarbeitung und Schulbuchliteratur geflissentlich abmoderiert. Es besteht aber kein Zweifel, dass die so eifrig gefeierte Glorie der Partei sich eigentlich nur auf die vergangenen 40 Jahre bezieht, nachdem unter Deng Xiaoping der Sprung zur wirtschaftlichen Öffnung des Landes gelang und unter der sanften Beimischung von kapitalistischen Elementen Chinas Wirtschaftswunder auf die Spur gebracht wurde.
Vor 20 Jahren, als Chinas wirtschaftlicher Aufstieg konkrete Formen anzunehmen begann, haben sich westliche Politikauguren auf die Sichtweise verständigt, dass eine prosperierende Mittelklasse sich nach und nach aus dem eisernen Griff der Partei lösen und mehr politische Freiheiten genießen würde. Diese Einschätzung hat sich aber – wie man heute weiß – als Griff ins Klo erwiesen. Die Einmischung der Partei ins soziale Leben und der Anspruch auf permanente Huldigung sind größer denn je.
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Pekings Propagandakünstler sind mit der Zeit gegangen und haben ihre Sache fest im Griff. Mit der Kontrolle von Internet und sozialen Medien haben sie den Sprung ins Tech-Zeitalter gemeistert und mit von künstlicher Intelligenz gesteuerter Gesichtserkennungstechnologie die Totalüberwachung der Gesellschaft zum Kinderspiel gemacht. Chinas Erziehungswesen wiederum ist von eindringlicher Pro-Partei-Schulung geprägt. Jugendlicher revolutionärer Eifer im Geiste Maos wird dabei freilich noch immer goutiert, aber nur, wenn er sich in einem gepflegten Nationalismus entlädt, mit dem die Anfeindungen der westlichen Welt heldenhaft gekontert werden. Unter diesen Voraussetzungen lässt sich nun, ob Jung oder Alt, ganz entspannt der runde Geburtstag feiern. Bei einer Mitgliedschaft von gut 95 Millionen Menschen dürfte es eine ziemlich große und laute Party geben.