London

Immobilienbesitzer zweiter Klasse

Der furchtbare Brand im Grenfell Tower 2017 hat bis heute Auswirkungen. Unter den teils hysterischen Reaktionen und politischem Aktionismus leiden oft weniger wohlhabende Hauseigentümer.

Immobilienbesitzer zweiter Klasse

Der verheerende Brand im Sozialwohnblock Grenfell Tower 2017, der 72 Menschen das Leben kostete, ist bis heute nicht restlos aufgearbeitet. Dennoch drohen die Folgen des Unglücks unzählige Eigenheimbesitzer in den Ruin zu treiben. Es geht dabei nicht mehr um die generelle Verwahrlosung des Objekts, dessen Wohnungen oft überbelegt waren oder illegal untervermietet wurden. Auch das materielle Elend vieler Bewohner spielt keine große Rolle mehr, obwohl ein viel zu alter Kühlschrank die Brandursache war. Auch die allgemein lasche Bauaufsicht und mangelhafte Brandschutzmaßnahmen verschwanden schnell wieder aus der öffentlichen Wahrnehmung. Der Schlendrian in der Lokalverwaltung, die für die Immobilie verantwortlich war, wird immer mehr ausgeblendet. Stattdessen fokussiert man sich lieber auf die Hersteller der Fassadenverkleidung, die im Nu in Flammen aufging, und die Baufirmen, die das Material verbauten.

Damit lassen sich wunderbare Robin-Hood-Geschichten zaubern. Denn es gibt leicht zu identifizierende Bösewichte wie den US-Baustoffhersteller Arconic, der sein Produkt nach dem Brand nicht vom Markt nahm. Der Rivale 3A hatte sein Vergleichsprodukt dagegen zurückgezogen. Die irische Kingspan gab bereits zu, dass es im britischen Baustoffgeschäft „unannehmbares Verhalten“ gegeben habe. Warum solche Materialien von öffentlichen Bauherren überhaupt verwendet werden, bleibt unklar. Angeblich wurde der Turm verkleidet, um seine Energiebilanz zu verbessern. Böse Zungen behaupten, die Lokalverwaltung habe den Schandfleck durch die Fassadenverkleidung für die wohlhabenderen Nachbarn optisch erträglicher gestalten wollen.

Nun will sich kein Politiker nachsagen lassen, er habe keine Lehren aus der Katastrophe gezogen. Weil die Fassadenverkleidung nicht überall schnell ersetzt werden kann, patrouillieren deshalb vielerorts Tag und Nacht Mindestlohnempfänger als Brandwachen durch Korridore und Treppenhäuser. Wie die 76-jährige Wohnungseigentümerin Adeline dem Londoner Radiosender LBC erklärte, erhielt sie diesen Monat vom Brandschutzdienstleister „Wait and Watch“ eine Rechnung in Höhe von 7000 Pfund für weitere sechs Monate. „Als Rentnerin leiht mir niemand Geld“, sagte sie dort. „Wir können nicht verkaufen, wir können die Immobilie nicht beleihen, wir können überhaupt nichts tun.“ Geht es nach der Labour Party, sind elf Millionen Menschen von den Folgen des Skandals betroffen. Tatsächlich lebt nur ein Fünftel aller britischen Haushalte – etwa 5,6 Millionen also – in Wohnungen. Nicht alle dürften sich in Wohnblocks befinden.

Die Initiative „End Our Cladding Scandal“ geht davon aus, dass bis zu 1,5 Millionen Wohnungsbesitzer ihre Objekte nicht verkaufen können, weil die Erwerber dafür keine Hypothek aufnehmen könnten. Nicht dass die Immobilien ernsthaft brandgefährdet wären, doch verfügen sie nicht über die nötige EWS1-Bescheinigung (External Wall Fire Review), um das zu beweisen. Dieser Nachweis ist teuer, und die Wartezeiten sind enorm. Sachverständige, die sie abzeichnen müssen, haben deswegen Probleme mit ihrer Berufshaftpflichtversicherung. Oft wird Umzugswilligen erst klar, dass ihre Projekte nicht beliehen werden können, wenn sie den Verkaufsprozess schon angestoßen haben. Bereits verabredete Transaktionen platzen. Die Entfernung der beanstandeten Materialien vollzieht sich im Schneckentempo. Oft zieht sie weitere Arbeiten nach sich. Der nun von Wohnungsbauminister Robert Jenrick aufgelegte 3,5 Mrd. Pfund schwere Hilfsfonds ist für die Betroffenen nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Dabei sind die Tories eigentlich die Partei der Immobilienbesitzer. Doch Erbpächter (Leaseholder) haben wenig Mitspracherecht, wenn von der Verwaltung kostspielige Sanierungsmaßnahmen verordnet werden. Schon vor Grenfell waren viele ehemalige Sozialmieter gezwungen, ihre Wohnungen aufzugeben, weil sie sich ihren Anteil bei der Anschaffung neuer Heizkessel für einen Wohnblock oder Wärmedämmungsmaßnahmen nicht leisten konnten. Egal wie sie sich positionieren, die Tories werden unter den vom Skandal Betroffenen wenig Stimmen holen. Vermutlich konzentrieren sie sich deshalb in erster Linie auf Schadensbegrenzung.