Tokio

Impferfolg und Mittelschicht­frust

Vor der Unterhauswahl in Japan freuen sich die Japaner über Erfolge im Kampf gegen das Coronavirus – und zweifeln am Umverteilungsversprechen von Neupremier Fumio Kishida.

Impferfolg und Mittelschicht­frust

Psst! Auf unerklärliche Weise hat Japan das Coronavirus vertrieben – die Zahl der täglichen Neuinfektionen in der Hauptstadt Tokio ist von 6000 im August auf unter 100 gesunken. Dabei gilt der „staatliche Notstand“ seit Ende September nicht mehr. Seitdem dürfen die Bars und Restaurants wieder länger öffnen und auch wieder Alkohol ausschenken. Die Japaner genießen die zurückgewonnene Freiheit und gehen massenweise aus. Auch die U- und S-Bahnen sind nun mit mehr Pendlern unterwegs, weil einige Unternehmen das Homeoffice-Angebot verringern. Trotzdem infiziert sich fast niemand mehr.

Japanische Virologen erklären dieses Rätsel vor allem mit der hohen Impfquote, die von 15% im Juli auf zuletzt mehr als 67% geklettert ist, obwohl die Japaner als impfskeptisch gelten. Daher könnte die Inselnation die angestrebte Herdenimmunität erreicht haben. Denn anders als in Europa verzichtet trotz Durchimpfung bisher fast niemand auf die Gesichtsmaske. Auch in Innenräumen wird überall fast automatisch auf gute Lüftung und sozialen Abstand geachtet, während die Regierung noch über 2G- oder 3G-Regeln für Restaurants und Hotels nachdenkt. Kritiker verweisen zwar darauf, dass die Zahl der Tests um ein Drittel gefallen ist, so dass weniger Fälle gefunden werden. Aber ihr Argument überzeugt nicht wirklich, da die Positivrate der Tests von 25% auf dem Höhepunkt im August auf 1% geschrumpft ist.

Allerdings sind sich die Pandemie-Experten nicht einig, ob die Fallzahlen nach dem Herbst niedrig bleiben werden. Als im vergangenen Jahr die Außentemperaturen zurückgingen und die Menschen sich häufiger in geheizten und geschlossenen Räumen aufhielten, nahmen die Infektionen deutlich zu, obwohl es damals keine hoch­ansteckende Delta-Variante gab. Angesichts dieser saisonalen Gefahr arbeitet die Regierung von Fumio Kishida an einem Vorsorgeplan mit eingeschränkten Freizeitaktivitäten, einer höheren Reserve an Covid-Betten und Booster-Impfungen, damit die nächste Welle weniger Opfer fordert.

*

Womit wir schon mitten im Wahlkampf für das Unterhaus des Parlaments wären, dessen Zusammensetzung am 31.Oktober neu bestimmt wird. Premier Kishida hat den Wählern einen „neuen Kapitalismus“ in Gestalt von höheren Löhnen und Gehältern versprochen. Hier sind die Japaner leidgeprüft: In den vergangenen drei Jahrzehnten stiegen ihre Reallöhne nur um 4%, nominal wuchsen sie zwischen 2012 und 2020 um unmerkliche 1,2%. „Auf der ganzen Welt sehen wir eine Bewegung, die Mittelschicht im Kern der Demokratie zu schützen“, begründete Kishida seinen Fokus auf den Einkommen.

Die Vermehrung der Mittelschicht schrieb sich seine Regierungspartei LDP bereits in den 1970er Jahren auf die Fahnen. Die größte Oppositionspartei CDP nimmt diese Tradition jetzt auf und zieht mit dem Slogan „Wiederaufbau der 100-Millionen-Mittelschicht“ in die Wahlschlacht. Diese Versprechen nehmen viele Japaner mit eher gemischten Gefühlen auf. Einerseits betrachten sich gemäß der offiziellen Jahresumfrage zur Lebenszufriedenheit knapp 93% der Bevölkerung als Angehörige der Mittelschicht, während sich nur 5% zur Unterschicht zählen. Jedoch stieg die Armutsrate seit Mitte der 1980er Jahre von 12% auf 16%. Ein Drittel der Haushalte in Japan verdient im Jahr weniger als 3 Mill. Yen (23000 Euro) und partizipiert daher nicht am Wohlstand.

Die Diskrepanz zwischen Wirklichkeit und Selbsteinschätzung begründete der Ökonom Eisaku Ide von der Keio-Universität mit „Verdrängung“. Dadurch fehle den Japanern die Energie, die soziale Ungleichheit zu verringern und die Gesellschaft zu verbessern. Jedoch passt das Umfrageergebnis nicht zu einer anderen Entwicklung: Schon vor der Jahrtausendwende begannen die Japaner nämlich damit, sich selbst und andere in die Gruppe der Verlierer („make gumi“) oder der Gewinner („kachi gumi“) einzuordnen. Die brutale Wortwahl verrät, dass viele Bürger nicht mehr an gleiche Chancen und an sozialen Aufstieg glauben. Kishidas Ankündigung eines „neuen Kapitalismus“ mit weniger Ungleichheit könnte daher seine Wahlchancen weniger steigern als erhofft.