Japans Probleme mit sexueller Gewalt und Diskriminierung
Man kann es kaum oft genug schreiben: Die japanische Gesellschaft achtet Frauen (zu) wenig und erlaubt den Männern (zu) viel Freiheit, wenn man westliche Maßstäbe anlegt. In Europa und den USA kommen Männer, die Frauen belästigen und missbrauchen, vor Gericht. In Japan lässt man sie ihre Karriere nach einer Entschuldigung ohne viel Aufsehen fortsetzen. Die „Me too“-Bewegung hat jedenfalls in Japan kaum Fuß fassen können, weil es schlicht an Sensibilität für die Nöte der Frauen fehlt.
Der jüngste Fall: Der Schauspieler Teruyuki Kagawa hat sich letzte Woche entschuldigt, nachdem ein Magazin berichtet hatte, dass er 2019 die Brüste einer Hostess betatscht, ihren BH ausgezogen und ihn an Kollegen weitergegeben habe. Kagawa ist als Schauspieler im Kabuki-Theater sowie als TV- und Filmstar ein bekannter Name im Unterhaltungsgeschäft. Keiner seiner Sponsoren oder Fernsehsender, in denen er auftritt, hat die Beziehung zu ihm beendet.
Der populäre Youtuber Hiroyuki Nishimura kommentierte die Entschuldigung mit der Aussage, dass Frauen, die als Hostessen arbeiten, im Gegenzug für die Duldung sexueller Gewalt hohe Löhne erhielten. Damit versuchte er offenbar das Verhalten Kagawas zu rechtfertigen. In den Hostessen-Bars bedienen die Kellnerinnen die Männer, unterhalten sich mit ihnen und trinken mit ihnen, anfassen ist jedoch nicht erlaubt.
Laut einer im Juni veröffentlichten Regierungsumfrage hat fast die Hälfte der jungen Japanerinnen und Japaner, die sexuelle Gewalt erlitten haben, niemandem davon erzählt. In der Umfrage wurde sexuelle Gewalt als „unerwünschte sexuelle Bemerkung oder Handlung“ definiert. Die Kehrseite dieses Schweigens sind falsche Vorstellungen von Übergriffen gegen Frauen. So erstellten Studenten der Universität Saitama gerade eine Broschüre, die anhand von Beispielen aus dem wirklichen Leben über sexuelle Gewalt auf dem Campus aufklären will. „Die Leute denken bei sexueller Gewalt an Aktionen nachts auf der Straße“, sagte der Student, der die Idee zu dieser Broschüre hatte. „Aber sie ist viel näher an uns dran.“
In Japan scheint es auch an Respekt für sexuelle Minderheiten zu mangeln. Anders lässt sich kaum erklären, warum Premierminister Fumio Kishida ausgerechnet eine ultrakonservative Frau ins Kabinett berufen hat, die ihre Verachtung sowohl für Homosexuelle als auch für Frauenrechte mehrmals offen geäußert hatte. Regierungschef Kishida hat Mio Sugita im Zuge seiner Kabinettsumbildung im August zur parlamentarischen Vizeministerin für Inneres und Kommunikation gemacht. Als Beobachter fragt man sich, was Kishida damit bezwecken wollte. Aus Sicht der LGBT-Community in Japan sendet er jedenfalls ein verheerendes Signal.
In einem Interview für eine BBC-Dokumentation, die im Juni 2018 über die japanische Journalistin Shiori Ito ausgestrahlt wurde, die von ihrem Vorgesetzten mit K.-o.-Tropfen betäubt und dann sexuell missbraucht wurde, sagte Sugita, 55 Jahre alte Parlamentsabgeordnete der regierenden Liberaldemokratischen Partei (LDP): „In ihrem Fall gab es klare Fehler als Frau – nämlich viel (Alkohol) in Gegenwart eines Mannes zu trinken und ihr Gedächtnis zu verlieren.“ Im August 2018 schrieb sie in einem Artikel mit dem Titel „Unterstützung für ‚LGBT‘ ist übertrieben“ für die Monatszeitschrift „Shincho 45“: „Kann die Verwendung von Steuergeldern für LGBT-Paare öffentliche Unterstützung gewinnen? Sie haben keine Kinder, also sind sie nicht produktiv.“ Danach protestierten Vertreter sexueller Minderheiten vor der LDP-Zentrale, die Zeitschrift wurde eingestellt.
Auf die Frage nach ihrem Artikel erklärte Sugita auf einer Pressekonferenz am 15. August nach ihrer Ernennung zur parlamentarischen Vizeministerin: „Ich habe nie Vielfalt abgelehnt oder sexuelle Minderheiten diskriminiert.“ Bezüglich des Ziels der Kishida-Regierung, eine „Gesellschaft zu schaffen, die Individualität und Vielfalt respektiert“, sagte sie: „Als parlamentarische Vizeministerin glaube ich nicht, dass es etwas gibt, das dem Ziel der Kishida-Regierung widerspricht.“ Angesichts ihrer Behauptungen dürften Angehörigen von sexuellen Minderheiten die Ohren geklingelt haben.