Tokio

Kapitalismuskritik statt Krimiserie

Der Bankier Eiichi Shibusawa wollte das Unternehmertum zu mehr Ethik und Moral verpflichtet wissen. Seine Geschichte strahlt Japans öffentlich-rechtlicher Sender NHK nun jeden Sonntagabend in einer Serie aus.

Kapitalismuskritik statt Krimiserie

Worin besteht seit Jahrzehnten ein Unterschied zwischen der ARD und Japans öffentlich-rechtlichem TV-Sender NHK am Sonntagabend? Die ARD sendet seit 1970 um 20.15 Uhr einen 90 Minuten langen Tatort-Krimi, während NHK seit 1963 um 20 Uhr eine 45 Minuten lange Folge einer Fernsehserie mit einem historischen Thema ausstrahlt. Diese Serien sind als „Taiga Dorama“ (Großer-Fluss-Drama) bekannt und laufen in der Regel über ein ganzes Jahr von Januar bis Dezember. In diesem Bildungsfernsehen vom Feinsten dramatisiert NHK historische Ereignisse und Personen in Japan wie bedeutende Shogun-Militärherrscher und einflussreiche Samurai-Krieger, um die Zuschauer gleichzeitig aufzuklären, zu bilden und zu unterhalten. Der Marktanteil ist in diesem Jahrhundert gesunken, schwankte aber zuletzt immer noch zwischen 15% und 20%. Solche Quoten sind um so erstaunlicher, als der historische Stoff nicht immer leicht verdaulich ist.

In diesem Jahr thematisiert das inzwischen sechzigste Taiga Drama seit dem 14. Februar unter dem Titel „Seiten wo Tsuke“ (übersetzt etwa: „Nach dem blauen Himmel greifen“) die Biografie von Eiichi Shibusawa. Der Bankier und Geschäftsmann lebte von 1840 bis 1931 und gilt als „Vater des Kapitalismus in Japan“ – was den Unterschied zur ARD einmal mehr betont. Oder können Sie sich am Tatort-Sendeplatz eine 50-teilige fiktionalisierte Fernsehserie über die deutschen Bankiers Wilhelm von Finck oder Ludwig Bamberger vorstellen?

Shibusawa ist auch in Japan kein allzu geläufiger Name. Die Kenntnis seines Lebens setzt eine gewisse Grundbildung voraus. Aber für NHK gibt es einen konkreten Anlass, warum man diese Figur gerade zum Thema macht: Shibusawa wird ab 2024 das neue Gesicht auf der 10000-Yen-Banknote sein. Dort prangt derzeit das Antlitz von Yukichi Fukuzawa (1835–1901), des „Vaters der japanischen Demokratie“. Die 10000-Yen-Note ist in ihrer täglichen Bedeutung mit dem europäischen 50-Euro-Schein zu vergleichen.

Shibusawa ist vielen gebildeten Japanern wegen seines Mantras „Rongo to Soroban“ ein Begriff. Der Slogan kombiniert das Sammelwort für die Aussprüche des chinesischen Gelehrten Konfuzius und die Bezeichnung für den japanischen Abakus, ein mechanisches Rechengerät mit Kugeln. Es geht also darum, das Gewinnstreben der Privatwirtschaft mit einer kollektiven Moral und Ethik zu verbinden. Die Unternehmer sollen nach Gewinn streben und damit zugleich dem öffentlichen Interesse dienen. Dieser Anspruch kennzeichnete das Leben von Shibusawa und verleiht ihm angesichts der wachsenden Ungleichheiten durch den entfesselten Kapitalismus eine aktuelle Bedeutung.

Am Anfang seiner Karriere arbeitete der Bauernsohn für einen Zweig der Tokugawa-Sippe, die Familie der Shogune, die Japan vom Anfang des 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts beherrschten. 1867 reiste er mit dem jüngeren Bruder des letzten Shoguns zur Pariser Weltausstellung. Sechs Jahre später hob er, damals noch Beamter im Finanzministerium, die erste japanische Bank aus der Taufe und übernahm auch gleich deren Leitung. Über die Dai-ichi Ginko, eine Vorläuferin der heutigen Finanzgruppe Mizuho, versorgte er fast 500 junge Unternehmen mit Kapital, darunter neue Eisenbahngesellschaften und das Imperial Hotel in Tokio. Viele andere Gründungen unterstützte er mit Rat und Tat.

Jedoch weigerte sich Shibusawa, kontrollierende Anteile an einzelnen Firmen selbst zu besitzen, und versagte sich damit großen persönlichen Reichtum. Ähnlich philanthropisch rief er Hunderte gesellschaftlicher Einrichtungen wie die Industrie- und Handelskammer, die Börse, Universitäten, Privatschulen sowie Hilfsorganisationen ins Leben. Auch setzte Shibusawa sich für den grenzüberschreitenden Handel ein und praktizierte noch im Rentenalter mit den USA eine Privatdiplomatie. In ihren Nachrufen bezeichnete die US-Presse den 91-Jährigen respektvoll als „Japan’s Old Man“. Sein Gedanke, dass Unternehmen einen sozialen Zweck haben müssen, wird Japan derzeit jeden Sonntag vermittelt. Wenn er 2024 auf dem wichtigsten Geldschein auftaucht, wird man seine Geschichte in Japan kennen.