LeitartikelLabour an der Macht

Der unverhoffte Hoffnungsträger

Labour hat eine harte Kehrtwende vollzogen. Das macht Premierminister Keir Starmer zum Hoffnungsträger.

Der unverhoffte Hoffnungsträger

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Der unverhoffte Hoffnungsträger

von Andreas Hippin

Labour hat eine harte Kehrtwende vollzogen. Das macht Keir Starmer zum Hoffnungsträger.

Viele Labour-Wähler reiben sich erstaunt die Augen. Altgediente Parteimitglieder sind empört. Denn ihr Premierminister Keir Starmer schlägt einen Kurs ein, den sie nicht erwartet hatten. Konservative Kommentatoren freut, dass Großbritannien unter seiner Führung eine Kehrtwende vollzieht. Plötzlich verfolgt die Regierung eine Agenda, die in vielen Ländern Rechtsparteien kennzeichnet.

Dazu gehört die Kürzung des einst von David Cameron aufs Podest gehobenen Entwicklungshilfebudgets, um höhere Militärausgaben zu wuppen. Schatzkanzlerin Rachel Reeves ist klar, dass man den Staatshaushalt nicht immer weiter aufblähen kann. Anders als in Deutschland wird in Großbritannien darüber diskutiert, wo gespart werden kann, um Geld dafür zu haben, den geopolitischen Herausforderungen unserer Zeit zu begegnen. Für die Ukraine gibt es bei aller Solidarität in erster Linie Kredite, keine kostenlose Rundumversorgung.

Reeves hält das Geld zusammen

In London hantiert man nicht mit Sondervermögen, um aus dem Ruder laufende Ausgaben einfach aus dem Haushalt herausnehmen zu können. Und obwohl es im Vereinigten Königreich keine Schuldenbremse gibt, will man bei Labour überbordende Sozialleistungen nicht durch eine höhere Neuverschuldung finanzieren.

In den Korridoren von Whitehall ist die Stimmung gedrückter als zu den Zeiten, in denen der Brexiteer Jacob Rees-Mogg noch in den Ministerien nachsah, ob die Beamten nach all den Monaten entspannter Heimarbeit an ihre Schreibtische zurückgekehrt sind. Denn Labour setzt auf den Einsatz von künstlicher Intelligenz zur Steigerung der Effizienz des öffentlichen Diensts. Dann geht es nicht mehr nur um Anwesenheitspflichten. Zehntausende Stellen würden einfach überflüssig.

Bürokratieabbau durch Bürokratenabbau

Für Starmer spricht, dass er die Axt zuerst beim National Health Service (NHS) ansetzt. Das öffentliche Gesundheitswesen wurde während der Pandemie zum Milliardengrab. Ob Boris Johnson oder Rishi Sunak: Konservative Regierungen schaufelten immer noch mehr Geld in das Fass ohne Boden. Gedankt wurde es ihnen nicht, schon gar nicht von der streikfreudigen Belegschaft.

Starmer löst dagegen NHS England auf, eine Quasi-Nichtregierungsorganisation mit 14.000 Mitarbeitern. Bürokratieabbau funktioniert am besten durch Bürokratenabbau. Die Aufgaben von NHS England werden künftig die Beamten des Gesundheitsministeriums erledigen. Expertise ist reichlich vorhanden, denn es gibt zahllose Überschneidungen und Dopplungen. Was in Zukunft an Personalkosten eingespart wird, kann für mehr Ärzte und Krankenpfleger ausgegeben werden.

Sanierungsfall Sozialstaat

Das erinnert an Elon Musk und seine Doge-Putztruppe. Schlimmer noch für die Parteilinke: Starmer spricht offen über den kaputten Wohlfahrtsstaat. Hatte Labour die Tories vor der Wahl noch dafür kritisiert, Leistungen für Menschen, die zu krank zum Arbeiten seien, auf den Prüfstand zu setzen, setzt Starmer auch hier zur Kehrtwende an. Es geht um die rasant wachsende Zahl von Arbeitsunfähigen. Ihr Anstieg lässt sich nicht zuletzt dadurch erklären, dass sie im Monat mehr Geld zur Verfügung haben als ein Mindestlohnempfänger.

Einer von acht jungen Menschen sei weder in Arbeit, noch in Aus- oder Fortbildung. Das sei nicht nachhaltig, nicht zu rechtfertigen und nicht fair, sagt Starmer. Recht hat er. Und das Schöne an der Kehrtwende in Sachen Sozialstaat ist, dass das Unterhaus viele Änderungen mit einfacher Mehrheit auf den Weg bringen kann. Labour jätte diese, auch wenn sich 70 bis 80 Abgeordnete aus den eigenen Reihen dagegen sperren sollten.

Koalition des Stillstands

In Berlin zeichnet sich dagegen eine weitere Koalition des Stillstands ab, die auch noch auf die Grünen zurückgreifen muss, um sich den ganz großen Schluck aus der Pulle gönnen zu können. Noch muss Deutschland nicht so viel für neue Schulden zahlen wie Großbritannien. Will man vermeiden, dass es soweit kommt, lohnt der Blick über den Ärmelkanal, wo Starmer unverhofft zum Hoffnungsträger wurde.

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