Keine Kinder ohne Küsse
Keine Kinder ohne Küsse
Notiert in Tokio
Von Martin Fritz
2023 lag die Fruchtbarkeit in Deutschland und Japan ähnlich niedrig: 1,26 Geburten pro deutscher Frau und 1,2 pro Japanerin. Während Deutschland dies gelassen sieht, betrachtet Japans Regierung es als ernstes Problem. Elon Musk warnte bereits vor zwei Jahren, Japan könnte aussterben. Im Sommer verabschiedete das Parlament ein Gesetzespaket mit Fördermaßnahmen, das jährlich 3,6 Bill. Yen (22,5 Mrd. Euro) kosten wird. Ein Viertel der Summe stammt aus einem monatlichen Krankenversicherungsaufschlag von 800 Yen (5 Euro).
Weniger Kusserfahrungen
Diese staatlichen Bemühungen erklären, warum eine Umfrage des Japanischen Verbandes für Sexualerziehung kürzlich Aufsehen erregte: Nur jedes vierte Mädchen und jeder fünfte Junge an Oberschulen erlebte im letzten Schuljahr den ersten Kuss – der niedrigste Wert seit Beginn der Umfragen 1974. Dies könnte die Geburtenrate dieser Jahrgänge später senken.
Bei Mädchen der Klassen 10 bis 12, also im Alter von 16 bis 18 Jahren, berichteten 28% von einem ersten Kuss, vor sieben Jahren waren es über 40%. Bei Jungen derselben Altersgruppe wurden 22,8% erstmals geküsst, verglichen mit fast 34% im Jahr 2017. Geschlechtsverkehr hatten 12% der Jungen und 14,8% der Mädchen, ein Rückgang um 3,5 bzw. 5,3 Prozentpunkte. Gleichzeitig stieg die Masturbationserfahrung bei Oberschülern auf Rekordhöhen: bei Mädchen auf 20%, bei Jungen auf 90%.
Pandemie als Hauptursache
Der Verband führt den Rückgang bei Küssen und Geschlechtsverkehr auf die Pandemie zurück, als der Staat die Vermeidung der „3Ks“ – enge Räume, überfüllte Orte und engen Kontakt – empfahl. Interessanterweise erwähnte die Analyse nicht, dass Schüler während der Pandemie und oft bis heute Masken tragen. Diese schränken nicht nur die Kommunikation etwa durch Lächeln ein, sondern verdeutlichen auch die Infektionsgefahr mit dem Coronavirus beim Küssen.
„Die Pandemie beschränkte die zwischenmenschlichen Beziehungen und die Kommunikation mit Freunden während der Mittelschule, wenn das Interesse an Sexualität normalerweise erwacht“, sagte Soziologe Yusuke Hayashi von der Musashi-Universität der Zeitung „Mainichi“. Die vermehrte Masturbation sei aber kein Ersatz für körperliche Kontakte, sondern hänge mit dem leichteren Zugang zu sexuellen Darstellungen zusammen, erklärte Hayashi.
„Abkehr von körperlichem Sex“
Soziologin Tamaki Kawasaki hingegen sieht in den Ergebnissen eine Abkehr von „echter körperlicher sexueller Aktivität“. „Wenn Teenager, die die Zukunft des Landes repräsentieren, so weitermachen, ist eine Verbesserung der sinkenden Geburtenrate kaum zu erwarten“, schrieb Kawasaki in einer Kolumne im Magazin „President“.
Aber die Forscherin sieht auch die Sexualerziehung selbst als Ursache für die Abkehr von Küssen und Körperkontakten: „In Japan entwickeln Kinder eine ‚Immunität‘ gegenüber sexuellem Verhalten, weil sie zuerst negative Botschaften über Sexualität erhalten und positive Aspekte erst später vermittelt bekommen.“