Keine Lust auf Auslandsreisen
Notiert in Tokio
Keine Lust auf Auslandsreisen
Von Martin Fritz
Mit ihrem Reisepass können die Japanerinnen und Japaner 190 Länder visumfrei besuchen. Im jüngsten Passport-Ranking des Londoner Beratungsunternehmens Henley & Partners steht Japan zusammen mit Südkorea damit hinter Singapur und vor Deutschland weltweit an zweiter Stelle. Aber die Japaner nutzen ihre fast grenzenlose Reisefreiheit nicht. Nur 17,5% der Bürger, also nur jeder Sechste, besitzt einen gültigen Reisepass. Zum Vergleich: In den USA beträgt diese Rate rund 50%. Das Innenministerium in Tokio zählte 2024 auch nur noch 13 Millionen Ausreisen von Japanern. Die Gesamtzahl, die nicht zwischen Mehrfachreisenden, Geschäftsleuten und Touristen unterscheidet, liegt ein Drittel unter dem Niveau vor der Pandemie.
Yen verteuert Auslandsreisen
Die verringerte Lust der Japaner auf Auslandsreisen könnte finanzielle Gründe haben. Die Kaufkraft der japanischen Währung ist im vergangenen Jahr gegenüber dem historischen Hoch um zwei Drittel auf ein Rekordtief gesunken. Diese indirekte Folge von über zwei Jahrzehnten milder Deflation bei Löhnen und Preisen in Japan, während es in vielen Ländern insbesondere nach der Pandemie zu kräftigen Preisschüben kam, führt dazu, dass Auslandsflüge und -aufenthalte für Japaner richtig teuer wurden.
Doch die stetige Abnahme der Zahl der gültigen Reisepässe über einen Zeitraum von 20 Jahren spricht für tieferliegende Gründe. 2005 besaßen immerhin 27% der Bevölkerung einen Reisepass. Seitdem ist die Zahl der Reisepässe um fast 40% auf 21,6 Millionen gesunken. Die demografische Alterung dürfte hier eine wichtige Rolle spielen. Fast 30% der Bevölkerung sind älter als 65 Jahre, fast 17% sind über 75 Jahre alt. Diese Altersgruppen neigen zu einer geringeren Mobilität und scheuen anstrengende Auslandsreisen.
Kostenlose Pässe für die Jugend
Parallel schrumpfte aber auch die Zahl der Schüler und Studenten, die ihre Ausbildung vorübergehend im Ausland fortsetzen. Generell zeigen junge Japaner weniger Interesse an Auslandsreisen als in der Vergangenheit. Bei einem Treffen im November forderte der japanische Verband der Reiseagenturen die Regierung vergeblich dazu auf, jungen Erwachsenen kostenlose Reisepässe auszustellen. Premier Shigeru Ishiba sei nicht fähig, mittel- bis langfristige Herausforderungen anzugehen, schrieb die Finanzzeitung Nikkei in einem Kommentar.
Eigentlich müsste Ishiba die nachlassende Auslandslust als Alarmzeichen für eine geringere globale Wettbewerbsfähigkeit von Japans Wirtschaft wahrnehmen. Wer nicht mehr neugierig auf das Ausland ist, der bemerkt weniger, wohin sich die übrige Welt bewegt. Ein weiteres Warnsignal: Auch die Zahl der Japaner, die dauerhaft im Ausland leben, wächst. Ihr Anteil an allen derzeit im Ausland lebenden Japanern stieg von 31% im Jahr 2005 auf 44% im Jahr 2023. Unter diesen 575.000 Japanern, die zu 70% in den USA wohnen, dominieren die 30- und 40-Jährigen. Offenbar sehen mehr Japaner im erwerbsfähigen Alter in ihrer Heimat nicht genug Chancen, ihre persönlichen Ambitionen zu verwirklichen.