Lackmustest für Chiphersteller
Gestern hui, heute pfui? Der Höhenflug vieler Halbleiterwerte an den Börsen ist vorerst beendet. Nach ihren Sprüngen im Spätsommer und Frühherbst vergangenen Jahres weisen der Philadelphia Semiconductor Index (Sox) und der Dow Jones US Semiconductor Index seit Mitte Oktober eine gestiegene Volatilität auf hohem Niveau aus. Die verstärkten Ausschläge und Schwankungen der wichtigen Börsenindizes für die Chipindustrie sind ein Indikator für die wachsende Nervosität der Anleger an den Märkten, insbesondere in Bezug auf Technologiewerte.
Treiber dieser Entwicklung sind die zunehmenden Inflations- und Zinssorgen, die Versorgungsengpässe mit Chips sowie die sich verbreitende Omikron-Variante in der Corona-Pandemie. Letzteres dürfte das Wachstum der Wirtschaft abbremsen. Insbesondere der Konjunkturmotor China gerät ins Stottern. Die zweitgrößte Volkswirtschaft der Welt nach den USA zählt als wichtiger Abnehmer zu den Zugpferden der Chipbranche. Beispiel Infineon: Deutschlands größter Halbleiterkonzern erzielte im zurückliegenden Geschäftsjahr 29 % seines Umsatzes in der Volksrepublik.
Auffallend ist die starke Diskrepanz zwischen den vermeintlichen Risiken für die Zukunft und den fundamentalen Daten und Geschäftschancen der Chipadressen. Der italienisch-französische Infineon-Wettbewerber STMicroelectronics, der weltgrößte Chipauftragsfertiger Taiwan Semiconductor Manufacturing Company (TSMC) und der niederländische Chipausrüster ASML wiesen zuletzt gute Jahreszahlen aus, die zum Teil die hauseigenen Prognosen und die Erwartungen der Investoren übertrafen. Die hohe Nachfrage nach elektronischen Bauelementen bei begrenzten Fertigungskapazitäten beschert Umsatzzuwächse und höhere Margen. Vor allem die Preise für die begehrten Mikrochips steigen. Davon profitiert die gesamte Branche, die sich in einem zyklischen Aufwind befindet.
Der weltweit wachsende Bedarf an Chips infolge einer beschleunigten Transformation zur Elektromobilität, der wachsende Trend zu autonomem Fahren, die zunehmende Bedeutung der künstlichen Intelligenz und die Digitalisierung aller Lebens- und Arbeitsbereiche sorgen dafür, dass die Geschäftsmodelle der Chipunternehmen stabil bleiben. Daher sind Analysten in Bezug auf das Kurspotenzial börsennotierter Adressen nach wie vor positiv gestimmt. Die Kaufempfehlungen für die Aktien überwiegen. Doch derzeit werden an den Börsen bei den Anlageentscheidungen offensichtlich die Risiken höher bewertet als die Chancen. Die Aktienmärkte wirken wie ausgereizt.
Vor diesem Hintergrund ist 2022 entscheidend dafür, in welche Richtung es geht. Bestehen die Chiphersteller den Lackmustest, dürfte weiteren Kurszuwächsen nichts mehr entgegenstehen. Fallen sie aus Sicht der Investoren aber durch, wird die Phase extremer Kursschwankungen andauern. Dabei spielt in der allgemeinen Wahrnehmung die aktuelle Chipknappheit eine wichtige Rolle. Sollte es der Branche im laufenden Zwölf-Monats-Berichtsturnus gelingen, die Versorgungsengpässe deutlich abzumildern oder gar zu beseitigen, wäre ein Hemmnis überwunden.
In der von den Chipengpässen im Neugeschäft stark beeinträchtigten Autoindustrie geht man davon aus, dass sich voraussichtlich in der zweiten Jahreshälfte die Lage bessert. Auf mittlere Sicht dürften Angebot und Nachfrage aber erst dann ins Lot kommen, wenn sich die Corona-Pandemie in eine Epidemie abschwächt. Denn trotz umfangreicher Impfkampagnen reagieren vor allem in Ost- und Südostasien Länder auf Rückschläge mit drastischen Maßnahmen wie abermaligen regionalen Lockdowns. Das verlangsamt die erhoffte Erholung bei den Lieferketten.
Auf die Branchenstruktur hat das keinen Einfluss. Trotz zahlreicher Konsolidierungswellen mit milliardenschweren Übernahmen ist die Chipindustrie weiterhin stark fragmentiert. Die 20 größten Halbleiterhersteller der Welt vereinen auf sich rund drei Viertel des Marktes. Die übrigen weltweit rund 1500 Anbieter teilen unter sich das restliche Viertel des Umsatzkuchens auf, der 2021 um fast ein Viertel auf 580 Mrd. Dollar wuchs. Das ist ein Rekordwert. Der Trend zur Konzentration dürfte aber andauern, da Fremdkapital für Akquisitionen nach wie vor günstig zu bekommen ist. Doch Größe allein ist kein Vorteil, um Dämpfer abzufedern. Denn der in Angriff genommene Ausbau von Produktionskapazitäten, um den Chipmangel zu beheben, führt künftig zu Preisrückgängen im Angebot auf breiter Front. Davon wären alle Halbleiterhersteller betroffen, abzulesen an rückläufigen Margen. (Börsen-Zeitung, 21.1.2022)