Schanghai

Lockdown mit Laufsteg

Schanghai steht für Weltgewandtheit und zeitlose Eleganz. Der Pekinger Machtapparat steht für rigide Planzielfixierung mit plumpen Durchsetzungsmethoden. Mit dem von Peking angeordneten harten Lockdown für Schanghai prallen zwei Welten aufeinander.

Lockdown mit Laufsteg

Das festliche Zeremoniell kann beginnen. Alles starrt gebannt auf die junge Dame, wie sie entlang des von Würdenträgern in medizinischer Schutzkleidung gebildeten Spaliers zur Prozedur schreitet. Ihr Kleid ist ein Traum aus Tüll und Seide, auf dem Haupt prangt ein glitzerndes Diadem und das Ende des meterlangen weißen Schleiers wird von einer holden Jungfer gehalten. Der Zeremonienmeister stellt die entscheidende Frage, das junge Mädchen haucht ihre Einwilligung, lüftet den Mundschutz und gewährt dem wohldesinfizierten langstieligen Wattestäbchen Einlass in die hinteren Areale ihres Rachenraums. Dann legt die frisch abgestrichene Brautkleid-Trägerin ihren Mundschutz wieder an und wandelt samt ihrer ebenfalls getesteten Schleppenträgerin zurück in ihre Gemächer im 26. Stock der Wohnanlage, die sie nun erneut auf unbestimmte Zeit nicht verlassen darf.

Die Weltstadt Schanghai befindet sich im harten Lockdown. Ein jeder darf seine Wohnung nur dann verlassen, wenn das mobile Testkommando in der Hochhaus-Anlage angerückt ist und plärrende Megafone dazu auffordern, sich nach unten zu begeben und zum Abstrich anzutreten. Der kurze Hofgang mit einer Prise Frischluft und der Andeutung von physischem Kontakt zur Außenwelt ist für zahlreiche Schanghaier zu einem „Happening“ geworden. Sie sehen den obligaten PCR-Test nicht nur als willkommene Unterbrechung der Monotonie an, sondern auch als eine Gelegenheit für kleine Auftritte mit großer Wirkung in sozialen Netzen.

Der Fantasie sind dabei keine Grenzen gesetzt. Chinesen spielen in Sachen „Costume Play“ (Cosplay) weit oben in der Weltliga mit. So haben die Testtruppen schon ziemlich alles am anderen Ende des Wattestäbchens vor sich gehabt. Das Spektrum reicht von kleinen Kindern im Dinosaurier- oder Einhorn-Kostüm, über Pandabären, Mickymäuse, das gesamte Spektrum von Marvel-Comics-Superhelden und japanischen Anime-Figuren bis hin zu den Historik-Freaks in prunkvollen Gewändern und Frisuren aus verschiedenen chinesischen Dynastien. Da die einheitlich in Weiß und Hellblau gehaltenen chinesischen Corona-Schutzanzüge ihre Träger wie eine Kreuzung aus Schlumpf und Weltraumfahrer aussehen lassen, wirken die Szenen erst recht surreal.

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Die Schanghaier Bevölkerung versteht den von Peking verordneten harten Lockdown immer mehr als eine jämmerliche Farce, der im fortgeschrittenen Stadium nicht mehr mit Wut, sondern nur noch mit Satire beizukommen ist. Von den absoluten Fallzahlen und insbesondere den tatsächlichen Er­krankungen her entspricht die bisherige Omikron-Ausbreitung tatsächlich nur einem sanften Wellengang. Auf den aber will Peking mit Vorkehrungen für einen Jahrhundert-Tsunami reagieren.

Nun hat die Zentralregierung eine Reihe von Bataillonen medizinischen Personals aus umliegenden Provinzen und sogar Militär nach Schanghai beordert, um bei Massentests und Quarantäneversorgung zu assistieren. Für die „Locals“ ist die Hilfsaktion von außen eine bodenlose Frechheit, mit der Schanghai, ohne gefühlt echten Anlass, zu einem Katastrophengebiet degradiert wird. So etwas löst bei der typischen Schanghai-Lady den Reflex aus, sich für den PCR-Test nun erst recht in Schale zu werfen und mit noch mehr Beinschlitz, höherem Absatz und intensiverem Make-up zur Sache zu schreiten.

„Lockdown Fabulous“ heißt die Devise. Das zugereiste Landeier-Kommando in ihren Schlumpf-Kitteln soll ruhig große Augen machen. Sie haben es schließlich mit einer stilsicheren Großstadtelite zu tun, für die Seuchenkontrolle und elegantes Auftreten kein Gegensatzpaar ist. Manch Megafonschreier, der die Menschen aus den Wohneinheiten zusammentrommeln muss, nimmt es mit Humor. Einer der gegenwärtig beliebtesten Videoclips im Netz zeigt Schutzpersonal das am frühen Morgen durch eine Hochhaus-Anlage läuft und die Ansage macht: „Alle runterkommen zum Test! Ladies, lasst die Schminkerei und geht direkt zum Lift, unser heutiger Ärztetrupp besteht eh nur aus Einheimischen.“

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