Lost in Gentrification
Notiert in Frankfurt
Lost in Gentrification
Von Lutz Knappmann
Während der Autofahrer zügig über die Hamburger Elbbrücken rumpelt, bleibt sein Blick verkehrsgefährdend lange an einem mächtigen Betongerippe haften. Die halbfertige Struktur des Elbtowers in der Hafencity, der sich anschickt, zum höchsten deutschen Haus außerhalb von Frankfurt zu wachsen, ist auch in diesem Stadium schon ein einschüchterndes Monument.
Nach dem Kollaps des Immobilienimperiums von René Benko dürfte dieser Anblick freilich eine Weile so bleiben. Es herrscht Baustopp an der Hafenkante, seit die Signa Group Insolvenz anmelden musste. Aber selbst die enthusiastischsten Freunde des morbiden Charmes alter Bauruinen dürften nachvollziehen, dass die Hansestadt diesen unfertigen Zustand ihres Prestigebaus unter keinen Umständen perpetuieren möchte. Fieberhaft sucht Hamburg nach einem neuen Projektentwickler, der den Elbtower zügig vollendet.
Grassierende Immobilienkrise
Quer durch die Republik lähmt die grassierende Immobilienkrise den Fortschritt auf einer wachsenden Zahl von Großbaustellen. Nicht nur der Zusammenbruch des Signa-Firmengeflechts reißt Lücken in schöne Skyline-Träume. Die gesamte Branche steckt angesichts galoppierender Finanzierungs- und Materialkosten in der Klemme. Allen voran die Zunft der Projektentwickler, die häufig die größten Risiken tragen – denen sie unter dem Druck von Inflation, Rezession und Zinswende nun nicht mehr standhalten.
Mitten im Frankfurter Stadtzentrum bekommt dieses Drama eine ganz eigene Note. Im vergangenen August rutschte die Gerchgroup in die Insolvenz, zumindest teilweise: Vier von neun Großprojekten des Immobilienentwicklers waren betroffen. Die aufwändige Wiederbelebung des historischen Frankfurter Polizeipräsidiums blieb davon zunächst unbehelligt. Doch die Hoffnung währte nur kurz: Vor wenigen Tagen wurde bekannt, dass auch jene Gesellschaften, die das Filetgrundstück in Laufweite zu den glitzernden Bankentürmen bebauen sollten, pleite sind.
Eindrucksvolle Mischung aus neobarocker und neoklassizistischer Architektur
Nicht wenige Frankfurter dürften über die neueste Wendung in der Saga um das verwahrloste Areal aber gar nicht so traurig sein: Das 1914 vollendete Polizeipräsidium, mit seiner eindrucksvollen Mischung aus neobarocker und neoklassizistischer Architektur, zählt längst zu den profiliertesten „Lost Places“ der Republik. Seit 22 Jahren dem Verfall preisgegeben, dient das Baudenkmal nicht nur abwechselnd als dystopische Filmkulisse und als romantisch-morbides Open-Air-Kino. Regelmäßig treffen sich Hobbyfotografen zu Fotosafaris in den kunstvoll bröckelnden Gängen, führen Historiker staunende Besuchergruppen durch das steinerne Zeugnis der Stadtgeschichte.
Wie es aussieht, dürften sich diese kulturellen und touristischen Attraktionen noch eine Weile halten. Dass sich das 15 Hektar große Areal wie ursprünglich geplant bis 2026 in ein weiteres jener polierten und seltsam sterilen Frankfurter Neubauviertel verwandelt, ist schlechterdings ausgeschlossen.
Sorgenvoll sondiert die Stadt nun Alternativen, schließlich soll im neuen Quartier auch dringend benötigter, geförderter Wohnraum entstehen. Die Erfolgsaussichten sind angesichts der Moll-Stimmung im Immobiliensektor ungewiss. Vorerst bleibt das alte Präsidium also wahlweise ein Schandfleck oder ein mystisch verwitterter Lost Place – je nach Perspektive.