Manager mit Persönlichkeitsstörung sind ein Risikofaktor für Unternehmen
Im Blickfeld
Manager mit Persönlichkeitsstörung sind ein Risikofaktor für Unternehmen
Narzisst, Machiavellist und Psychopath − je nach Ausprägung der Kategorien können verhaltensauffällige Führungskräfte Unternehmen hohe Schäden zufügen. Der Betrugsskandal um Wirecard liefert Anhaltspunkte.
Von Stefan Kroneck, München
Die Zahlen sind auf den ersten Blick bemerkenswert. Studien zufolge weisen je nach Diagnosekriterium 0,5 bis 1% der Bevölkerung narzisstische Persönlichkeitszüge auf. Den Anteil von Personen mit psychopathischen Eigenschaften schätzen Verhaltensforscher auf 1,5 bis 3,5%. Für Deutschland mit seinen rund 84 Millionen Einwohnern bedeutet das, dass darunter bis zu rund 3 Millionen Menschen dissoziale Persönlichkeiten sind. Wissenschaftlern zufolge ist unter Managern der Anteil solcher Personen überdurchschnittlich hoch. Narzissten machen unter Führungskräften 3% aus, Psychopathen nach Ansicht des kanadischen Kriminalpsychologen Robert D. Hare 3 bis 6%.
Rechnet man das auf die insgesamt 160 Gesellschaften der Dax-Familie (Dax, MDax, SDax) mit durchschnittlich jeweils vier Personen in der obersten Führungsetage hoch, so befinden sich − rein statistisch gesehen − unter den insgesamt rund 640 Vorstandsmitgliedern börsennotierter deutscher Top-Unternehmen etwa 19 bis 38 Menschen mit einer Persönlichkeitsstörung.
Auf den zweiten Blick zeigen die Studien aber auch, dass der Großteil der Bevölkerung nicht betroffen ist. Gestörte Persönlichkeiten sind in allen gesellschaftlichen Schichten deutlich in der Minderheit.
Manager-Coaching heute üblich
Dennoch ist aufgrund der Nominalzahl von Narzissten und Psychopathen in der Psychiatrie und Psychologie die Beschäftigung mit Menschen, die in ihrer Persönlichkeit gestört sind, ein Thema mit wachsender Bedeutung. Mittlerweile ist es auch in europäischen Großkonzernen dem Vernehmen nach Usus, dass Psychologen neu eingestellte Manager in verantwortungsvoller Position während einer Probezeit coachen. Der Trend aus den USA breitet sich in Europa aus.
Unternehmen haben ein großes Interesse daran, zu wissen, dass die neuen Führungskräfte in ihrem Verhalten tatsächlich „berechenbar“ sind. Mittelständler können sich diesen Zusatzaufwand oftmals allerdings nicht leisten.
Die Extremform „dunkle Triade“
Menschen mit Persönlichkeitsstörungen kommen unter Managern laut Psychologen deshalb relativ häufig vor, weil Bildungs-, Leistungs- und Einkommenseliten in Gesellschaften Personen mit narzisstischen und psychopathischen Verhaltensweisen „anziehen“. Akademiker mit übersteigertem Selbstwertgefühl und Geltungsdrang (Narzissmus) sowie unberechenbarem, impulsivem Verhalten (Psychopathie) sind aber faktisch nicht in der Lage, in Teams zu arbeiten beziehungsweise Teams zu führen, da sie aufgrund ihrer Selbstbezogenheit, ihres Egozentrismus bei zugleich mangelnder Empathie dazu neigen, ausschließlich ihre eigenen Interessen in einer Gruppe in den Vordergrund zu stellen. Das sagte eine Psychologin, die nicht namentlich genannt werden möchte, der Börsen-Zeitung.
Das impliziert schon per se ein hohes Schadenrisiko für Unternehmen, die das Ideal eines Teams mit Vorgesetzten anstreben, die auf Augenhöhe die ihnen unterstellten Mitarbeiter führen.
Die Beispiele Putin und Trump
Personen, die bereits über diese beiden Charaktermerkmale verfügen und darüber hinaus andere Menschen auf Basis einer gehobenen Machtposition bewusst „verdeckt" manipulieren (Machiavellismus), um ihre eigenen Ziele zu verwirklichen, gleichen einem Verhaltensmuster, welches Psychologen als „dunkle Triade“ bezeichnen. Das heißt, wenn sich Narzissmus, Psychopathie und Machiavellismus vereinen.
Anders als bei Managern in Unternehmen ist diese „dunkle Triade“ bei Politikern augenscheinlicher. Beispiele dafür sind Wladimir Putin und Donald Trump. Psychologen sind auch dieser Ansicht. Das Problem ist aber, dass auch deren Bewertung nur auf Ferndiagnosen beruht; belegen lässt sich diese Annahme auf Grundlage einer Diagnose nicht. Höchstwahrscheinlich wird es dafür nie Beweise geben, denn es ist kaum vorstellbar, dass sich der russische Autokrat und der ehemalige US-Präsident „freiwillig“ einer psychologischen Untersuchung unterziehen, die diese Vermutung auf Grundlage regelmäßiger Gespräche nachweisen könnte. Beide würden überdies ohnehin widersprechen, dass sie so sind, wie sie von anderen wahrgenommen werden. Sie haben vermutlich ein völlig anderes Selbstbild, das von dem der Öffentlichkeit radikal abweicht.
Gesellschaftliche Normen überlappen
Letzteres ist ein entscheidender Aspekt. Im Alltag und damit auch im Arbeitsleben sind Persönlichkeitsstörungen von außen auf Anhieb nicht erkennbar. Es kann Jahre dauern, bis man bei verhaltensauffälligen Führungskräften so etwas diagnostiziert. Dazu gehört aber die Bereitschaft der betroffenen Person, sich gegenüber anderen wirklich zu öffnen. Da viele dies aus Scham und Statusdenken nicht tun, bleiben diese Störungen zeitlebens „unentdeckt“, nachdem Kollegen, angewidert von Narzissten und Psychopathen im Betrieb, längst – ohne nähere Angaben zu den Gründen – gekündigt haben, um zu anderen Organisationen zu wechseln.
Wer glaubt, die „dunkle Triade“ sei eine notwendige oder gar hinreichende Bedingung dafür, dass ein Manager mit Persönlichkeitsstörung in die Kriminalität abdriftet, der irrt. Viele, auf welche die Triade zutreffen könnte, verstoßen nicht gegen Gesetze, weil sie im Rahmen der vorgegebenen gesellschaftlichen Normen und des Rechtssystems gelernt haben, trotz ihrer schwierigen Persönlichkeit im Großen und Ganzen sozial unauffällig zu leben, wie Benjamin Schorn in seinem 2022 erschienenen Buch „Gier, Macht, Scham? Motive krimineller Manager psychologisch erklärt“ aufführt. Kontrollmechanismen (darunter Aufsichtsräte, Compliance-Regeln und Wirtschaftsprüfer) bilden zudem in Konzernen eine Hürde, Spielregeln bewusst zu verletzen. Werden diese Personen im Rang eines Managers dennoch kriminell, ist das Umfeld überrascht, weil man diesen Leuten das gerade aufgrund ihrer Unauffälligkeit nicht zugetraut hätte, so Schorn.
Zum Verbrechen verführbar
Einige erforschte Täterprofile in Wirtschaftsdelikten wiesen zwar Schorn zufolge „ausgeprägte Tendenzen narzisstisch-selbstbezogener Persönlichkeitseigenschaften“ auf, umfassende Studien hätten aber gezeigt, dass unter verurteilten Wirtschaftsstraftätern dieser Personenkreis gerade mal 17% ausmacht. Er bezieht sich dabei auf Forschungsergebnisse des Wirtschaftsprofessors Thomas Cleff und Kollegen. „Wie hoch der prozentuale Anteil von Narzissten im Sinne der einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung unter wirtschaftskriminellen Managern ist, bleibt weiterhin ungewiss“, schlussfolgert Schorn.
Wie der amerikanische Psychologe Stanley Milgram 1961 in Experimenten nachwies, haben durchschnittliche Menschen ebenso das Potenzial, kriminell zu werden, indem sie autoritären Anweisungen Folge leisten, obwohl diese den Normen widersprechen. Probanden wurden auf Befehl dazu verleitet, anderen schmerzhafte elektrische Schläge zu verpassen, wenn diese bestimmte Leistungen nicht erbrachten (Bestrafung), obgleich die Probanden wussten, dass diese Foltermethode zum Tod führen kann.
Das ernüchternde Resultat des Experiments verdeutlichte, dass fast jeder zu grenzüberschreitendem Verhalten fähig ist. Zum Vorschein kommt es glücklicherweise nie – oder wenn, dann doch nur äußerst selten. Ein Verweis auf eine Persönlichkeitsstörung als Ursache von Wirtschaftsstraftaten wäre daher zu eindimensional. Die Motive von Tätern sind komplexer.
Der Weg zur Kriminalität
Kriminologen, Psychologen, Psychiater und Forensiker in Wirtschaftsprüfungsgesellschaften gehen der Frage nach, unter welchen Bedingungen Führungskräfte mit dem Gesetz in Konflikt geraten. Schorn nennt u.a. Gier, persönliche Vorteilnahme, Überlegenheitsgefühle, betrügerische Absprachen mit anderen und eine Gelegenheit als Hauptmotive für Wirtschaftskriminelle. Der Autor hat Erfahrungen auf diesem Feld als Forensiker bei KPMG. Seinen Worten zufolge sind äußere Einflüsse ausschlaggebend.
So kann eine herausgehobene Machtposition in Kombination mit einer auf eine oder wenige Führungskräfte ausgerichteten Unternehmenskultur vorsätzliches betrügerisches Verhalten begünstigen. Stichworte dafür liefern ein Personenkult um einen CEO, das Gefühl der uneingeschränkten Willkürmacht des CEO und eine Kultur der Angst in einem Unternehmen. Das geht so weit, dass Manager auf mittlerer Hierarchieebene zu Handlungen bereit sind, obwohl diese ihren eigenen Normvorstellungen widersprechen, mit dem Ziel, Anerkennung und Aufmerksamkeit zu erhaschen. Psychologen nennen solche Personen „funktionale Narzissten“.
Braun – ein visionärer Narzisst?
Zum Typ des „visionären Narzissten“ zählt der oben erwähnten Psychologin zufolge Markus Braun, der Ex-CEO des 2020 zusammengebrochenen Zahlungsabwicklers Wirecard, dessen sogenanntes Drittpartnergeschäft in Asien mit Treuhandkonten von insgesamt 1,9 Mrd. Euro sich als Luftnummer erwies. Der Schaden für Gläubiger beträgt 3,2 Mrd. Euro. Braun sitzt seit Dezember 2022 vor Gericht. Der Hauptangeklagte leugnet, die Straftaten begangen zu haben. Das Gericht geht nicht der Frage nach, ob er eine Persönlichkeitsstörung haben könnte. So bleibt Verhaltensforschern bei Braun auch nur die Option der Ferndiagnose. Als visionäre Narzissten bezeichnen Fachleute Menschen, die in selbstdarstellerischer Form dazu neigen, in großen Dimensionen zu denken und nach außen Prognosen für die Zukunft abzugeben, die einem Größenwahn gleichen.
Auch bei aufgeflogenen betrügerischen Schneeballsystemen wie dem des Sportbodenherstellers Balsam AG (1994), des Horizontalbohrmaschinenhändlers Flowtex (1999) und des US-Börsenmaklers Bernie Madoff (2008) lässt sich im Nachgang nicht eindeutig sagen, ob eine Persönlichkeitsstörung die Ursache für kriminelle Handlungen war. In den Strafprozessen stand jedenfalls die Persönlichkeitsstruktur der verurteilten Täter als Erklärungsansatz ihres Fehlverhaltens nicht im Vordergrund.
Für Schuldfrage irrelevant
Das liegt daran, dass für die Justiz die Persönlichkeitsstruktur von Tatverdächtigen bei der Wahrheitsfindung in Sachen Wirtschaftskriminalität eine marginale Rolle spielt. Die Strafverfolger müssen zu Recht davon ausgehen, dass die Manager, die sich vor Gericht zu verantworten haben, schuldfähig sind − ganz gleich ob sie nun relativ „normal“ sind oder Anzeichen einer Persönlichkeitsstörung aufweisen. Als nicht schuldfähig gelten etwa Personen mit stark schizophrenen Störungen oder Demenzkranke.
Bemerkenswert in diesem Zusammenhang war die jüngste Entwicklung im Wirecard-Strafprozess. Die Anwälte des mitangeklagten früheren Konzernchefbuchhalters Stephan von Erffa verteidigten ihren Mandaten unter anderem mit dem Antrag, dass dieser wegen seiner persönlichen Schwächen (leicht manipulierbar) als nicht schuldfähig einzustufen sei. Sie versuchten, auf diesem Weg eine milde Strafe für ihren Mandaten herauszuholen. Die von der Strafkammer dafür eingesetzten zwei Gutachter stellten aber in ihrer Diagnose fest, dass Erffa zwar „auffällig“, aber weitgehend „normal“ sei. Damit scheiterte die Strategie der Rechtsbeistände.
Das zeigt, dass der Begriff der Normalität in der Verhaltensforschung und der Rechtsprechung äußert dehnbar ist. Wäre dies nicht der Fall, könnte man Manager, die nachweislich die „dunkle Triade“ in sich bergen, als nicht schuldfähig einordnen, weil sie extrem verhaltensabnorm sind. Das aber widerspräche dem Prinzip der Gleichheit aller vor dem Gesetz, zumal unter Psychologen Narzissten und Psychopathen nachgesagt wird, dass diese „schwer therapierbar“ seien.