Großbritannien sieht rot
Labour-Wahlsieg
Großbritannien sieht rot
Von Andreas Hippin
Labours Wahlsieg ist die Quittung für die Tatenlosigkeit der Tories. Die Wähler wollen Veränderung, nicht Stabilität.
Wahlen werden meist von der Regierung verloren, nicht von der Opposition gewonnen. Die britischen Konservativen haben sich die vernichtende Niederlage bei diesen Parlamentswahlen selbst zuzuschreiben. Großbritannien sieht rot, titelte das Massenblatt „The Sun“. Vor Wut, möchte man hinzufügen. Denn Labour-Führer Keir Starmer verfügt weder über Charisma, noch verspricht er einen grundlegenden Wandel. Dass er trotzdem einen Erdrutschsieg davontrug, ist dem Ärger der Bürger über die Tatenlosigkeit der Tories geschuldet.
Boris Johnson hatte sich vor fünf Jahren mit großer Mehrheit gegen Labour durchgesetzt. Er hatte damit ein überzeugendes Mandat, den Brexit über die Bühne zu bringen. Doch Königsmord hat in England Tradition. Johnson wurde von den Abgeordneten der eigenen Partei zur Strecke gebracht, die es nicht über sich bringen konnten, das Wahlprogramm umzusetzen, auf dessen Grundlage sie die Stimmen der Bürger erhielten.
Breite ist kein Vorteil
Neuwahlen wollten sie damals nicht riskieren, denn viele wussten, dass sie ihre Mandate vor allem der Popularität Johnsons verdankten. Also folgte erst die marktradikale, aber glücklose Liz Truss, dann der charmante, aber volksferne Buchhalter Rishi Sunak, ohne dass den Wählern die Möglichkeit gegeben wurde, mitzubestimmen, wer das Land regiert.
Dabei zeigte sich, dass es in Krisenzeiten kein Vorteil ist, wenn sich eine Partei als breite Kirche versteht, in der jeder seinen Platz hat. In der Tory-Fraktion koexistierten linksliberale Großbürger aus dem reichen Süden mit sozialkonservativen EU-Austrittsbefürwortern aus den Arbeiterregionen des englischen Nordens. Doch die Gegensätze befruchteten sich nicht.
Tatenlosigkeit wird bestraft
Neun Jahre lang wurde das Land von den Konservativen allein regiert. Sie hätten wesentliche Reformen auf den Weg bringen können: von der Neuorganisation des öffentlichen Gesundheitswesens über die Altenpflege bis hin zu den Planungsverfahren, die Wohnungsbau wie Infrastrukturausbau gleichermaßen verhindern. Nichts davon nahmen sie in Angriff.
Stattdessen überließen sie konservative Kernthemen wie Bildung, Familie und Kultur der Linken. Den Streiks im öffentlichen Dienst traten sie nicht entgegen. Die Steuerbelastung schraubten sie auf ein seit Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr gesehenes Niveau hoch, weil sie es nicht wagten, den während der Pandemie noch weiter aufgeblähten Wohlfahrtsstaat zurechtzustutzen. Das Streben in die politische Mitte zahlte sich nicht aus.
Jede Menge Konfliktpotenzial
Labour hat nun im Unterhaus eine erdrückende Mehrheit. Starmer kann bequem durchregieren, auch wenn er innerparteiliche Abweichler nicht unter Kontrolle bekommen sollte.
Doch ob Labour große Reformen beschließen wird, ist fraglich. Denn auch in Starmers Partei gibt es ein breites Meinungsspektrum. Die dort versammelten progressiven Akademiker aus den Großstädten verbindet nicht viel mit traditionellen Gewerkschaftsmitgliedern aus der Provinz. Das wird sich in den Debatten zur Zuwanderungspolitik und zur Atom-U-Boot-Flotte zeigen. Es ist deshalb kein Wunder, dass Labour im Wahlkampf nicht viel versprochen hat.
Neusprech statt Inhalt
Stabilität sei Veränderung, behauptete die künftige Labour-Schatzkanzlerin Rachel Reeves. Der Ansatz erinnert stark an George Orwells Neusprech. Doch Stabilität, die Kontinuität der miserablen Verhältnisse, der Stagnation, ist das Letzte, was die Wähler wollen.
Es lohnt sich, genau hinzusehen. Starmer konnte weniger Stimmen auf sich ziehen als sein Vorgänger Jeremy Corbyn 2017. Für seinen Wahlsieg war die Rechtspartei Reform UK maßgeblich verantwortlich. Sie sorgte vielerorts dafür, dass Labour in Führung ging, weil das rechte Lager gespalten wurde. Stabilität verspricht das Ergebnis deshalb nur bedingt. Weniger als drei Fünftel der Wahlberechtigten gaben ihre Stimme einer der beiden Volksparteien. So wenig waren es zuletzt 1923.